Caroline Baur an der Tour de SuisseDurch Gino Mäders Tod kommt alles wieder hoch
Die Schweizerin bestreitet ihr Heimrennen wie immer als wichtige Helferin. Und doch ist für sie diesmal alles anders: Vor zehn Jahren starb ihr Bruder beim Training auf dem Velo.
Die Zweifel stehen Caroline Baur ins Gesicht geschrieben. Die Radfahrerin steht zwischen den Sitzreihen des Busses ihres Teams, schrubbt sich die Haare trocken. Sie wirkt zerbrechlich, als sie sagt: «Ich bin k.o.» Die dritte und längste Etappe der Tour de Suisse der Frauen hat ihren Tribut gefordert. Und für Baur war der Preis besonders hoch. Seit ihrer Covid-Infektion im Winter – es ist die zweite für den Radprofi – kommt sie nicht in die Gänge: «Meine Beine schmerzten heute vom Start weg.» So sehr, dass sie auf halbem Weg komplett aussteigen will. «Ich dachte, jetzt geht gar nichts mehr.»
Es ist ihre Loyalität, die sie weitertreibt. Ihr Pflichtbewusstsein verdrängt die eigenen Qualen. Ihr Team braucht sie. Die Mannschaft Israel Premier Tech Roland ist bereits dezimiert: Nach der zweiten Etappe ist Olympiasiegerin Anna Kiesenhofer ausgestiegen, und eine weitere Fahrerin muss die dritte Etappe abbrechen. «Hätte ich den Bettel hingeschmissen, wären sie bei der heutigen Schlussetappe nur noch zu dritt unterwegs.»
Caroline Baur kämpft nicht für sich selbst. Sie ist eine Helferin. Spendet ihrer Leaderin Windschatten, damit diese Kräfte sparen kann. Fährt Löcher zu, wenn das Feld auseinanderreisst, und lässt sich zum Teamauto zurückfallen, um für die Kolleginnen Wasser zu holen. Mit etlichen Flaschen beladen pedaliert sie dann ins Feld zurück. Der 29-Jährigen macht es nichts aus, für andere «untendurch zu gehen». «Wenn es im Ziel heisst, dass sie ihre Exploits ohne mich nicht geschafft hätten, dann bin ich Teil des Erfolgs.» Das reicht der Ostschweizerin. Denn: Würde sie um die besten Platzierungen im Klassement kämpfen, wäre der Druck immens. «Und dem bin ich nicht gewachsen. Ich habe zu viel von meinem Selbstvertrauen verloren.»
Der Bruder wird beim Training vom Auto erfasst
Und gerade darum kämpft Baur dieser Tage besonders. Der Unfall von Gino Mäder am Albula hat die Welt der jungen Frau aus den Fugen gehoben und sie zehn Jahre in die Vergangenheit katapultiert. Damals, im Dezember 2013, riss ein Unfall ihren älteren Bruder Felix jäh aus dem Leben. Der 21-jährige Radrennfahrer wurde im Trainingslager in Spanien von einem Auto erfasst und schwer verwundet. Vier Tage später erlag Felix Baur seinen Kopfverletzungen.
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Schwester Caroline Baur ist auf dem Weg zum Teammeeting in St. Gallen, als sie am Freitagmittag die Nachricht von Mäders Tod erreicht. Und reagiert heftig: «Ich habe augenblicklich meine gesamte Energie verloren.» Unter Tränen wendet sie und fährt zurück nach Hause nach Kreuzlingen, wo sie mit ihrem Partner und der Dackeldame Rosie lebt. Die Verzweiflung von damals vermischt sich mit der Trauer um Gino Mäder, den die junge Frau von früher kennt. Sie leidet mit dessen Angehörigen mit. «Ich weiss, wie sich die immense Hilflosigkeit, die Ohnmacht nach einem solchen Verlust anfühlen.» Tage, Wochen, ja Monate wollte sie den Tod ihres zwei Jahre älteren Bruders nicht wahrhaben. Wähnte sie sich in einem Albtraum – von dem es einfach kein Erwachen gab.
Felix war es, der sie für den Radsport begeistert hatte. Mit ihm trainierte sie. Gemeinsam fuhren sie an Rennen. Die Geschwister teilten sich den Freundeskreis. «Ich bin überzeugt, er wollte, dass ich weiterfahre.» Es dauert, doch nach Felix’ Tod kämpft sie sich Schritt für Schritt zurück in den Sattel. Schliesst ihre kaufmännische Ausbildung ab, unterschreibt 2015 ihren ersten Profivertrag – und kommt unter die Räder eines patriarchalischen Teamchefs. «Der Druck war einfach zu hoch», erinnert sie sich. Jedes Mal, wenn es drauf ankam, hielt sie ihm nicht stand. «Ich konnte meine Kräfte im Training, aber nicht an den Rennen freisetzen.»
Flucht nach Amerika in die Anonymität
Baur zieht weg aus der Schweiz und nach Amerika. Wo sie Distanz zum Radsport gewinnen will, was ihr nicht gelingt. Sie trainiert wieder, fährt Rennen – ohne Druck. Die geografische Distanz zum Teufelskreis in der Heimat lässt sie aufatmen und Selbstvertrauen tanken. «Niemand kannte meine Geschichte, das hat mir sehr geholfen – ich hatte Zeit zum Verdauen.»
Seit 2021 ist sie nun zurück in der Schweiz, holte sich 2022 den Schweizer-Meister-Titel und steht seit 2022 beim Team Israel Premier Tech Roland (zuvor Roland Cogeas Edelweiss Squad) unter Vertrag – als Helferin. Zusätzlich hat sie ein 30-Prozent-Pensum beim Sportartikelhersteller Q36.5. Zudem verdient sie sich privat mit beschädigten Trikots einen Batzen dazu. Sie fertigt daraus schmucke Taschen in allen Formen und Grössen. «So haben Stürze zumindest etwas Gutes», sagt sie.
Zeit, den Schock über Gino Mäders Unfall zu verdauen, hat Baur am Freitag keine. Der Startschuss der Tour de Suisse der Frauen fällt nur einen Tag danach. Deshalb hofft sie insgeheim, dass die Veranstalter die Tour absagen. «So hätten sie mir die Entscheidung abgenommen, ob ich fahren soll oder nicht.» Sie hadert – und steht am Samstag am Start. Doch an diesem Tag fährt die Angst mit. «Ich wurde in der Abfahrt abgehängt, obwohl die technisch für mich eigentlich kein Problem darstellte.» Diesmal wollte sie einfach nichts riskieren.
In ihrer emotionalen Berg-und-Tal-Fahrt ist die Ostschweizerin nicht allein: Zwar steht sie während der Rennen im Dienst ihrer Teamkolleginnen, sie sind es nun aber, die ihrer Helferin den Rücken stärken. «Wir sind Freundinnen geworden und längst nicht mehr nur während der Saison in Kontakt.»
Eine von ihnen hantiert hinter Caroline Baur in der Kochnische des Teambusses. Sie hat nach dem Rennen Penne aufgesetzt, damit die Athletinnen ihre Energiespeicher wieder füllen können. Schliesslich will das Team den Top-Ten-Platz der Britin Claire Steels auf der letzten Etappe verteidigen. Für Baur bedeutet das: nochmals Löcher schliessen, Wasser holen und Windschatten spenden.
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