Bauarbeiter vor Zürcher ObergerichtWer ist schuld am Tod des 15-jährigen Lehrlings?
Der Teenager wurde von Betonelementen erschlagen. Nun muss die Justiz beurteilen, ob sich Bauarbeiter der fahrlässigen Tötung schuldig gemacht haben.

Was haben sich die Bauarbeiter nur gedacht, als sie vier Betonwand-Elemente, je über zwei Tonnen schwer, fast drei Meter hoch und zweieinhalb Meter breit, ohne jede Sicherung aufrecht an einen Baucontainer lehnten, mitten auf einer Baustelle in Dietikon?
Ein paar Tage später liess einer von ihnen den Container entfernen, die Elemente blieben. Frei stehend, ungesichert und unter Missachtung elementarer Sicherheitsvorschriften. Warum hat niemand reagiert? Nur Stunden später kippten die Platten um und begruben einen 15-jährigen Lehrling unter sich. Der Junge, der seine Ausbildung erst wenige Wochen zuvor begonnen hatte, war sofort tot.
Seither beschäftigt sich die Justiz mit der Frage, wer für dieses Unglück verantwortlich ist. Wer bestraft werden muss. Für die Staatsanwaltschaft ist klar: Drei Bauarbeiter haben sich der fahrlässigen Tötung schuldig gemacht.
Lehrlingsverantwortlicher akzeptiert den Schuldspruch
Bereits rechtskräftig verurteilt ist Hugo M. (alle Namen geändert). Der damals 68-Jährige, aus dem Kosovo stammende Polier und Kranführer war es, der die schweren Elemente an den Container lehnte. Er liess den Container später entfernen, ohne die Platten zu sichern. Und er beauftragte den Lehrling, für den er verantwortlich war, das Fundament des Containers wegzuspitzen – genau im Gefahrenbereich. Das Verdikt des Bezirksgerichts Dietikon: 7 Monate bedingt wegen fahrlässiger Tötung. Der Polier hat die Strafe akzeptiert.
Anders Paulo R., damals 19-jährig, Hilfsarbeiter. Er sollte an jenem Dezembermorgen im Jahr 2019 auf Anweisung seines 34-jährigen Vorarbeiters Adriano S. Ketten an den Betonelementen befestigen, damit Adriano S. diese mit dem Bagger an ihren Bestimmungsort bringen konnte. So steht es in der Anklageschrift.
Paulo R. soll zu diesem Zweck eine Leiter an eines der Elemente gelehnt und dieses so zum Kippen gebracht haben, worauf auch die anderen drei Domino-artig umfielen. Dafür verurteilte ihn das Bezirksgericht Dietikon im November 2022 zu 150 Tagessätzen à 90 Franken. Begründung: «Wenn man sich Arbeiten an senkrechtstehenden Betonwandelementen von zwei Tonnen zuwendet, dann gehört es zu den rudimentärsten Sicherheitsvorschriften, um deren korrekte Sicherung oder zumindest darum besorgt zu sein, dass sich im Gefahrenbereich niemand befindet.» Beides habe der Hilfsarbeiter unterlassen.
Paulo R. hat das Urteil ebenso angefochten wie der Staatsanwalt.
Adriano S. kam vor dem Bezirksgericht Dietikon mit einem Freispruch davon. Er sei anderweitig beschäftigt gewesen, als Paulo R. zur Leiter griff, befand das Gericht. Er habe nicht mitbekommen und auch nicht wissen können, was der Hilfsarbeiter tat. Der Staatsanwalt focht auch dieses Urteil an.
Sie sagen nichts ausser: «Unschuldig»
Kürzlich standen Adriano S. und Paulo R. deshalb vor den Schranken des Obergerichts. Zum Unglückstag und ihrer Rolle äussern mochten sich die beiden Portugiesen nicht. Einzig auf die Frage der vorsitzenden Richterin, wie sie sich zur Anklage stellten, gaben die beiden eine Antwort: «Unschuldig.»
Der Verteidiger des Hilfsarbeiters machte geltend, es sei nicht einmal erwiesen, dass sein Mandant überhaupt eine Leiter angelehnt habe: «Seine ersten diesbezüglichen Aussagen hat er nicht bestätigt.» Das Gericht dürfe diese Aussagen ohnehin nicht berücksichtigen, weil sie ohne korrekte rechtliche Belehrung erfolgt seien. Auch müsse mit einem Gutachten geklärt werden, ob das Anlehnen einer wenige Kilo schweren Leiter überhaupt dazu führen könne, dass ein zwei Tonnen schweres Betonteil kippe.
Aber selbst wenn Paulo R. die Leiter angelehnt und damit die Elemente umgestürzt hätte, sei er freizusprechen. «Als Hilfsarbeiter hat er getan, was man von ihm verlangt hat», sagte der Verteidiger. «Er handelte nicht von sich aus. Und er war nicht in der Position, andere auf Gefahren hinzuweisen oder gar zu verlangen, dass sie die Elemente sicherten.»
Dann ruft der Vater: «Es ist ja nicht Ihr Sohn!»
Das sah der Verteidiger von Vorarbeiter Adriano S. etwas anders. Paulo R. habe sehr wohl selbstständig entschieden, die Ketten anzubringen, während der Vorarbeiter mit seinem Bagger Erde in einen Laster gebaggert habe. «Der tragische Unfall geschah ohne sein Zutun, und er wäre durch ihn auch nicht zu verhindern gewesen.» Einzig den rechtskräftig verurteilten Hugo M. treffe die Schuld. Adriano S. hätte dem Polier keine Anweisungen erteilen können, denn dieser war bei einer anderen Firma angestellt als der Vorarbeiter.
Während der Ausführungen des Verteidigers kam es zu einem kleinen Eklat. Im Publikum sassen auch Eltern und Geschwister des getöteten Lehrlings. Sie hatten schon ein Jahr nach dem Unfall beklagt, sie fühlten sich von den Behörden und den beteiligten Baufirmen im Stich gelassen.
Als Adriano S.’ Verteidiger sagte, sein Mandant sei bloss «ein einfacher Maschinist» ohne jede Verantwortung und ohne die Kompetenz, einem anderen zu sagen, wo ein Lehrling eingesetzt werden dürfe, da riss dem Vater der Geduldsfaden. Er stürmte aus dem Saal, rief: «Ich kann nicht mehr» und «es ist ja nicht Ihr Sohn!»
Sie kannten die Gefahr, taten aber nichts
Der Staatsanwalt beantragte für den Hilfsarbeiter eine Strafe von 8 Monaten bedingt, für den Vorarbeiter 7 Monate bedingt. Letzterer habe während der gesamten Strafuntersuchung seine Rolle heruntergespielt, aber das sei unglaubwürdig: «Adriano S. wollte am Tag des Unglücks unbestrittenermassen die vier Betonelemente verschieben», sagte der Staatsanwalt. «Er muss mitbekommen haben, dass der Container weg war. Man konnte das von jedem Ort der Baustelle aus sehen, denn diese war klein und übersichtlich.»
Adriano S. müsse auch den Lehrling bei den Spitzarbeiten gesehen haben. Und als Maschinist mit 14 Jahren Berufserfahrung habe er wissen müssen, wie gefährlich die Situation war. Der Staatsanwalt sprach von einer chaotischen Baustelle mit unklaren Kompetenzen und mangelnder Planung: «Jeder kannte die Gefahr, aber niemand handelte.»
Auch Paulo R. habe davon gewusst. Das habe er am Anfang der Strafuntersuchung auch so gesagt: «Er und ein paar Kollegen haben demnach den Polier sogar noch aufgefordert, die Betonelemente wieder zu sichern.» In jenen ersten Einvernahmen habe er überdies von sich aus erzählt, die Teile seien gekippt, als er die Leiter angelehnt habe: «Da braucht es kein Gutachten mehr. Dass er diese Aussagen später nicht mehr bestätigen wollte, vermag die Glaubhaftigkeit nicht zu erschüttern.»
«Ein Schlag ins Gesicht»
Das Obergericht verkündete das Urteil nicht am Verhandlungstag selbst, sondern ein paar Tage später schriftlich – mit einem Freispruch für beide Beschuldigten. Wie es zu diesem Entscheid kam, muss hier offenbleiben. Anders als bei einer mündlichen Urteilseröffnung, wo das Gericht immer eine kurze Erläuterung abgibt, erfolgt ein schriftlicher Entscheid zunächst ohne Begründung. Das schriftlich begründete Urteil soll nach Angaben des Obergerichts in rund zwei Monaten vorliegen.
Der Vater des Lehrlings ist von den Freisprüchen bitter enttäuscht, wie er dieser Redaktion sagte. Das Urteil sein «ein Schlag ins Gesicht und ein Urteil gegen die Sicherheit auf Schweizer Baustellen». Dass nun Hugo M. allein am Unglück Schuld sein soll, das leuchte ihm nicht ein.
Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig. Es kann noch beim Bundesgericht angefochten werden. Die Familie des Lehrlings hat noch nicht entschieden, ob sie das tun will.
Fehler gefunden?Jetzt melden.