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Urteil im Fall Caster Semenya
Die Olympiasiegerin bringt die Schweiz in Nöte

Kann auf juristischer Ebene jubeln: Caster Semenya in einer Aufnahme von 2018.
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Seit Caster Semenya 2009 fast aus dem Nichts zur Weltmeisterin über 800 m wurde, ist sie Thema. Denn rasch wurde bekannt: Sie ist intersexuell. Seither hat der Leichtathletik-Weltverband fast schon verzweifelt versucht, den Umgang mit intersexuellen Athletinnen zu regeln.

Nun hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte im Fall Semenya entschieden (hier die Details). Die Schweiz ist davon stark betroffen, weil ihr eine Schlüsselrolle zukommt. Der renommierte Schweizer Sportjurist Stephan Netzle (65), einst selber Weltklasseruderer, beantwortet die drängendsten Fragen.

Um was geht es in der Causa Semenya?

«Die südafrikanische 800-m-Läuferin, Olympiasiegerin 2012 und 2016, klagte 2018 gegen eine neue Regel von World Athletics. Mit dieser Regel hätte Semenya ihren Testosteronlevel mit Medikamenten senken müssen, um weiter bei den Frauen starten zu können. Dagegen klagte Semenya beim Internationalen Sportgerichtshof CAS.

Dieser entschied, dass eine solche Regel zwar diskriminierend sei, aber im Interesse der Chancengleichheit gerechtfertigt. Dagegen legte Semenya Berufung beim Bundesgericht ein. Es ist zuständig, weil sich der Sitz des Sportgerichtshofs in Lausanne befindet. Das Bundesgericht stützte den Entscheid des CAS. Semenya blieb nur noch der Gang zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte.» 

Worin besteht die Herausforderung mit intersexuellen Menschen im Sport?

«Intersexuelle können aus genetischen, hormonellen und/oder anatomischen Gründen nicht eindeutig dem weiblichen oder dem männlichen Geschlecht zugeordnet werden. Der Leistungssport kennt solche Differenzierungen aber nicht. Darum sagt World Athletics: Jede Intersexuelle, die einen bestimmten Testosteronwert überschreitet und damit einen natürlichen Vorteil gegenüber ihren Konkurrentinnen haben könnte, muss ihn medikamentös senken, will sie in der Frauen-Kategorie starten.»

Was hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte nun entschieden?

«Dass es in der Schweiz kein ausreichendes Rechtsmittel gebe, mit welchem der Vorwurf von gravierenden Verletzungen der Menschenrechts­konvention EMRK überprüft werden könne.»

Fällt jetzt die Testosteron-Regel?

«Nein. Der Gerichtshof sagt nicht ausdrücklich, dass diese vom Leichtathletik-Weltverband angewandte Testosteron-Regel unzulässig sei. Der Gerichtshof hat auch den Entscheid des CAS oder des Bundesgerichts nicht aufgehoben. Das kann er nicht.» 

Muss Semenya ohne Hormonbehandlung weiterhin aussetzen?

«Ja. Die bisherige Regel gilt weiterhin. Wissen muss man aber: Dieses Urteil des Gerichtshofs kann innerhalb von drei Monaten an die Grosse Kammer des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte weitergezogen werden. Diese kann einen neuen Entscheid fällen. Weil der heutige Entscheid mit 4 zu 3 Stimmen knapp ausfiel, gehe ich davon aus, dass das Urteil weitergezogen wird.

Es kann aber auch nicht ausgeschlossen werden, dass sich andere Sportlerinnen mit vergleichbaren biologischen Besonderheiten gegen eine Teilnahmeverweigerung aufgrund der Testosteron-Regeln wehren und sich vor dem CAS auf das heutige Urteil berufen – und gewinnen.» 

Was bedeutet das Urteil folglich?

«Der Gerichtshof sagt: Semenya sei bei den Verfahren in der Schweiz ein wirksames Rechtsmittel verweigert worden. Sie habe nämlich glaubwürdig dargelegt, warum sie wegen der erhöhten Testosteronwerte diskriminiert worden sei. Für solche Diskriminierungen aufgrund des Geschlechts und sexueller Merkmale brauche es jedoch ‹sehr gewichtige Gründe›, hält der Gerichtshof im Urteil fest. Weil für Semenya so viel auf dem Spiel gestanden habe, also ihr Grundrecht auf Teilnahme an sportlichen Wettkämpfen, hätte ihr Anliegen gemäss Gerichtshof gründlicher geprüft werden müssen.» 

Wie geht es weiter?

«Die beklagte Partei ist die Eidgenossenschaft. Geht es nach dem Gerichtshof, soll nun die Schweiz als Staat dafür sorgen, dass der Rechtsschutz bei Klagen wegen Menschenrechts­verstössen ausgebaut wird, zum Beispiel durch eine Gesetzesänderung. Ich gehe jedoch davon aus, dass das nicht passieren wird. Denn je nach Entscheid hätte eine Änderung entsprechende Auswirkungen auf das ganze Recht der Schiedsgerichtsbarkeit, und zwar nicht nur im Sport.

Allerdings dürfte der Entscheid, falls er von der Grossen Kammer bestätigt wird, durchaus Einfluss auf die Rechtsprechung des CAS und auch des Bundesgerichts haben, und zwar auch ohne Gesetzesänderung. Immerhin zählt das Diskriminierungs­verbot bereits heute zu den Gründen, aus denen eine Schiedsentscheidung und somit ein CAS-Urteil in der Schweiz angefochten werden kann.»

Was folgt aus dem Urteil für die Sport­gerichtsbarkeit?

«Der Gerichtshof sagt, der CAS als Institution sei zwar sinnvoll, habe sich aber nicht mit der Menschenrechts­konvention auseinandergesetzt, sondern argumentiert: Diesen Aspekt könne nur ein staatliches Gericht klären. Diese Haltung dürfte meiner Meinung nach noch zu diskutieren geben, denn gerade in unserem Land hat die Schiedsgerichtsbarkeit eine grosse Bedeutung. Der Gerichtshof sagt auch: Zwar könne man CAS-Urteile beim Bundesgericht überprüfen lassen, aber dessen Befugnisse seien sehr beschränkt, weil es primär Verfahrensfragen behandle – nicht aber solche bedeutenden inhaltlichen Fragen.»