Unterbrochene Trump-RedeDie Medien drehen dem Präsidenten den Ton ab
Amerikanische Nachrichtensender unterbrechen Donald Trumps Rede, und auch die sozialen Medien wollen Lügen nicht mehr unkommentiert verbreiten.
Nach 35 Sekunden war Schluss mit der Pressekonferenz. Brian Williams, Nachrichtenmoderator beim Sender MSNBC, liess dem Präsidenten den Ton abdrehen, man hörte ihn nur noch leise im Hintergrund, zu verstehen war nichts mehr. «Wir finden uns gerade in der Situation wieder, dass wir den Präsidenten der Vereinigten Staaten unterbrechen müssen», sagte Williams. Und korrigieren müsse er ihn auch.
Fast alle der grossen Sender trafen am Donnerstagabend dieselbe, extrem ungewöhnliche Entscheidung. Nicht nur das linke MSNBC, sondern auch ABC, NBC, CBS und das Radionetzwerk NPR schnitten spontan weg von Trumps Rede, in der er eine Unwahrheit nach der anderen sagte: Wenn man die «legalen Stimmen» zählte, so Trump, hätte er schon locker gewonnen. Zähle man aber die «illegalen Stimmen» mit, «dann können sie versuchen, uns den Sieg zu stehlen».
Keine illegal abgegebenen Stimmen
Viel genauer wurde Trump nicht, es gehe ihm um die spät abgegebenen Stimmen, davon gebe es viele, man sehe sich das sehr genau an. Brian Williams, der MSNBC-Mann mit dem wie geschnitzt wirkenden, klassischen «News Anchor»-Gesicht, schaltete den Rechtsexperten seines Senders dazu und liess ihn bestätigen, dass nichts bekannt sei zu illegal abgegebenen Stimmen und dass Trump, zumindest zur Stunde, nicht gewonnen habe.
Seit Beginn seiner Präsidentschaft ist Trump in den Medien täglich Faktenchecks unterzogen worden, und fast täglich fanden Journalisten Lügen, Ungenauigkeiten und Verzerrungen in seinen Äusserungen. Aber reden liess man ihn. Er ist schliesslich der Präsident. Seit Donnerstag ist das anders. Ein Grossteil der Sender gibt ihm gar nicht erst die Gelegenheit, live von einem Wahlbetrug zu sprechen, für den niemand Beweise vorgelegt hat, auch das Trump-Lager nicht.
Oder von einem Sieg, den es noch nicht gibt. Auf dem Nachrichtensender CNBC war gerade Shepard Smith live auf Sendung, als Trump sprach. Smith hat bis zum vergangenen Oktober bei Trumps Lieblingssender Fox News gearbeitet, kündigte aber aus Unzufriedenheit über die mangelnde Neutralität des Senders. Auch er unterbrach den Präsidenten. Er sagte: «In nichts, was er gesagt hat, steckt auch nur ein Fünkchen Wahrheit.»
«Was für ein trauriger Abend für die USA.»
Drüben bei Fox liess man Trump, wie auch bei CNN, aussprechen. Aber unwidersprochen blieb seine Rede auch dort nicht. Fox-News-Moderatorin Martha MacCallum, die durch die Wahlnacht geführt hatte, sagte, Beweise für den von Trump erwähnten Wahlbetrug «müssen noch vorgelegt werden, wenn es sie denn tatsächlich gibt».
Jake Tapper vom linksliberalen CNN war da weniger zurückhaltend. «Was für ein trauriger Abend für die USA», sagte er. Trump versuche «die Demokratie mit einem Haufen Unwahrheiten» anzugreifen. Er beschmutze die Glaubwürdigkeit der Stimmenauszählung, «armselig» sei das. Auf CNN widersprach sogar der frühere republikanische Senatsabgeordnete Rick Santorum, der Trump sonst oft verteidigt: Was der Präsident gesagt habe, sei «gefährlich» und «schockierend». Briefwahlstimmen zu zählen, sei kein Betrug.
Das Fernsehen zügelt seine Reflexe
Das Fernsehen hat sich immer wieder hilflos gezeigt gegenüber Trumps unbekümmertem Umgang mit der Wahrheit. Es ist angewiesen auf Bilder, offizielle Äusserungen des Präsidenten werden traditionsgemäss live übertragen. Damit sind sie in der Welt, auch wenn die Moderatoren ihnen hinterher noch so oft widersprechen. Dass eine Trump-Pressekonferenz per Schnitt unterbrochen wurde, kam sehr selten vor.
Auf dieses Szenario aber scheinen sich die Sender vorbereitet zu haben. Vor der Wahl hatte es immer wieder Spekulationen darüber gegeben, wie Trump auf einen knappen oder auf einen lange unsicheren Wahlausgang reagieren würde. Nun tritt genau dieses Szenario ein. Und das Fernsehen zügelt – streng mit Trump, aber auch mit sich selbst – seinen Übertragungsreflex.
Auf den digitalen Medienplattformen kennen sie das Problem schon länger. Wie ein grosser Schatten liegt das Wahljahr 2016 auf ihrer Selbstdarstellung als einer Industrie, die die Welt zu einem besseren Ort machen will. Lügenbolde und Trolle hatten den Ausgang manipuliert. Lange hatten sie sich davor gescheut, dagegen einzuschreiten. War das Ideal des Internets doch ein Marktplatz der Ideen, offen für alle, eine digitale Ultrademokratie.
Twitter-Gründer und -Chef Jack Dorsey machte noch 2019 den Eindruck, als schere ihn die Rolle seiner Plattform in der Politik nicht weiter. Ähnlich stur gaben sich Facebook-Gründer Mark Zuckerberg sowie Larry Page und Sergey Brin, die Gründer des Google-Imperiums, zu dem Youtube gehört – selbst vor Ausschüssen des amerikanischen Kongresses. Zu viel stand für sie auf dem Spiel: nicht nur das Ideal der Offenheit, sondern vor allem ihr Geschäftsmodell.
Umschreibung für das Etikett «Lüge»
Und doch haben sich die Plattformen 2020 grundlegend verändert. In der Wahlnacht wurde das der Welt so bewusst wie selten. Sowohl Twitter als auch Facebook verbargen einen Post des Präsidenten, in dem er behauptete, er sei in Führung und die Demokraten würden versuchen, die Wahl zu stehlen. «Einige oder alle Inhalte, die in diesem Tweet geteilt werden, sind umstritten und könnten in Bezug auf eine Wahl oder einen anderen demokratischen Prozess irreführend sein», stand da nun. Eine höfliche Umschreibung für das Etikett «Lüge».
Elf Tweets des Präsidenten wurden seit der Wahlnacht hinter so einer Warnung versteckt. Dazu gehört auch das Video, aus dem sich die Fernseh- und Radiosender am Donnerstag ausklinkten. Facebook verfuhr ähnlich, als sich dort am Tag nach der Wahlnacht eine Gruppe namens «Stop the Steal» formierte, die behauptet, Biden stehle die Wahl.
Wenn Twitter und Facebook Bremsen einbauen, kostet sie das Reichweite, Geschwindigkeit und Geld.
Solche Entscheidungen treffen Twitter und Facebook gegen ihre eigenen Interessen. Ziel jeder digitalen Anwendung ist eine Funktion mit möglichst absoluter Reibungslosigkeit. Wenn Twitter und Facebook Bremsen einbauen, wenn sie Posts hinter Warnungen verstecken oder gar löschen, wenn sie politische Werbung Prüfungsprozessen unterziehen und den Radikalen unter ihren Nutzern Konten sperren, kostet sie das Reichweite, Geschwindigkeit und Geld.
Sie müssten das nicht tun. Es gibt immer noch den Paragrafen 230 des Mediengesetzes von 1996, der sie vor Handlungen Dritter auf ihren Systemen schützt. Doch das hilft ihnen nur bedingt. Denn nichts kostet eine Firma so viele Kunden wie ein fehlerhaftes Produkt. So aber bekommen die digitalen Medien eine neue Vorreiterrolle. Im Wahljahr 2016 tat sich im digitalen Raum ein Abgrund auf.
Im Wahljahr 2020 schlossen sie ihn wieder und etablierten sich und ihre traditionellen Vorläufer als wahre «vierte Macht im Staate». Zum ersten Mal in der Geschichte waren es nicht Machthaber, die Medien ausbremsten, sondern Medien, welche die Worte der Machthaber mit einem sehr offiziellen Etikett der Lüge kennzeichneten.
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