Fallende Corona-Zahlen in IsraelDie Massnahmen gelockert, doch die Wut wächst
Obwohl Israel den Lockdown teilweise aufhebt, macht sich Hoffnungslosigkeit breit: Ladenbesitzer verbrennen ihre Ware, andere drohen, sich nicht länger an die Vorschriften zu halten.
Zu Beginn der israelischen Arbeitswoche haben Kindergärten und Vorschulen ihre Tore für Hunderttausende Kinder im Alter von bis zu sechs Jahren geöffnet. Die Auflage, dass Bürger sich nicht weiter als einen Kilometer von ihrem Zuhause entfernen dürfen, wurde aufgehoben. Auch Naturparks und Strände können wieder besucht werden. Restaurants dürfen Mahlzeiten zur Abholung verkaufen. Die Klagemauer, die Grabeskirche sowie der Tempelberg in Jerusalem sollen unter Auflagen für Besucher zugänglich sein.
Nur 395 neue Fälle am Sonntag
Ein Anfang ist das nur, vieles bleibt weiterhin versperrt und verboten. Dennoch geht ein leichtes Aufatmen durchs Land, weil die Corona-Infektionszahlen deutlich sinken. Nach einem Höchststand von fast 9000 Fällen konnten die täglichen Zahlen letzte Woche wieder unter 2000 gedrückt werden. Am Sonntag verzeichnete das Gesundheitsministerium nur 395 neue Fälle.
Israels Premierminister Benjamin Netanyahu, der wegen der überhasteten Öffnung nach der ersten Viruswelle im Frühling zumindest eine Mitschuld am dramatischen Rückfall eingeräumt hatte, ist schon wieder in den Eigenlob-Modus gewechselt. «Der Lockdown ist bis jetzt ein gewaltiger Erfolg», verkündete er. Dabei dürfte dieser «Erfolg» bestenfalls ein Pyrrhussieg sein.
Ladenbesitzer in Tel Aviv haben letzte Woche ihre unverkaufte Ware auf der Strasse verbrannt als Zeichen des Protests und mehr noch der Hoffnungslosigkeit. Ihre Geschäfte werden bis auf weiteres geschlossen bleiben, ebenso wie Bars, Hotels, Fitnessstudios und vieles andere. Enorme Wut braut sich da zusammen, auch gegen die Regierung, von der nur noch 30 Prozent glauben, sie gehe verantwortungsvoll mit der Corona-Krise um. Selbst grosse Handelsketten drohen damit, unerlaubt die Läden zu öffnen.
Manche finden Schlupflöcher, wie die Blumenverkäufer, die nun auch ein wenig Obst in der Auslage haben, weil Lebensmittelläden öffnen dürfen. Doch am grossen Firmensterben ändert das wenig. Laut Schätzungen werden in diesem Jahr mehr als 80’000 Betriebe aufgeben. Allein von den landesweit 14’000 Restaurants, denen nun neben dem Liefer- auch ein Abholservice erlaubt wird, werden demnach höchstens 9000 überleben. Mehr als eine Million der insgesamt neun Millionen Israelis sind arbeitslos.
In religiösen Gebieten liegen die Infektionszahlen oft zehnmal höher als im Rest des Landes.
Zudem hat das Virus den jüdischen Staat zweigeteilt: in ein säkulares und ein ultraorthodoxes Land. Im religiösen Sektor werden die Corona-Regeln und -Verbote nur sehr begrenzt eingehalten, nicht selten offen ignoriert. Als Ergebnis liegen dort die Infektionszahlen oft zehnmal höher als im Rest des Landes. Während im Durchschnitt die Rate der positiven Tests inzwischen wieder auf 5 Prozent gesunken ist, bleibt sie dort immer noch zweistellig und lag teils bei 25 Prozent.
Darin liegt nicht nur ein enormes gesundheitliches Problem, sondern auch gesellschaftlicher Sprengstoff. Denn nach dem Ampelplan des israelischen Corona-Koordinators Ronni Gamzu bleiben alle «roten» Bezirke im Lockdown. So hat es auch das Kabinett beschlossen. In fünf ultraorthodoxen Städten und einigen Jerusalemer Stadtvierteln bleiben also die Restriktionen vorerst bis Mittwoch in Kraft. Es ist mit Widerstand von einflussreichen Rabbinern und religiösen Politikern zu rechnen, von deren Unterstützung Netanyahu abhängig ist.
Ultraorthodoxe Schulen wieder geöffnet
Eindringlich gefordert wird von ihnen auch die Öffnung der Jeschiwot, der Torah-Schulen, während alle anderen Schulen geschlossen bleiben sollen. Das israelische Fernsehen berichtete am Sonntag, entgegen den Vorschriften seien ultraorthodoxe Schulen wieder geöffnet worden.
Wenn Netanyahu jedoch jetzt wie so oft wieder den Forderungen der Ultraorthodoxen nachgibt, dürfte dies die Proteste im säkularen Lager anheizen. Die Lockdown-Lockerungen sind damit für den Premier ein politisch heikles Unterfangen, und es bleibt ein weiter Weg zu gehen: Vom Gesundheitsministerium wurde ein Achtstufenplan für die Öffnung ausgearbeitet, der bis ins nächste Jahr reicht. Und auch Rückschritte sind jederzeit möglich.
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