Interview über Netflix-«Barbaren»«Die Germanen als Gruppe gab es nicht»
Die unterlegenen Germanen besiegten die Römer in der Varusschlacht im tiefen Wald: So lautet der Mythos, den der deutsche Nationalismus schuf. Doch es war alles ganz anders, sagt die Archäologin Heidrun Derks.
Die deutsche Archäologin und Historikerin Heidrun Derks beschäftigt sich seit über 20 Jahren mit der Varusschlacht (9 n. Chr.) und der Frage, wie die Deutschen in den letzten Jahrhunderten mit diesem Ereignis umgegangen sind. Derks leitet das Museum Kalkriese nahe Osnabrück, das sich der Schlacht und ihrer Nachgeschichte widmet. Aktuell ist die Varusschlacht Thema der erfolgreichen Netflix-Serie «Barbaren».
Frau Derks, wir wissen nicht einmal, wo die Varusschlacht genau stattgefunden hat. Warum ist ein solcher Mythos um sie entstanden?
Das hat wenig mit dem Ereignis selbst zu tun und viel mit der deutschen Geschichte der letzten Jahrhunderte. Die Schlacht erzählt zudem eine klassische David-Goliath-Geschichte, auf der einen Seite die unterentwickelten Germanen, auf der anderen das übermächtige, hochgerüstete römische Heer. Auf der psychologischen Ebene lieben wir diese Art von Geschichten, auch wenn sie nicht allzu viel mit der Realität zu tun haben.
Warum also die nationale Überhöhung?
Das hat seine Ursachen in der deutschen Geschichte des 18. und 19. Jahrhunderts. Deutschland war politisch sehr lange ein zersplittertes Land. Erst 1871 kam es zur Einigung, vorher war es ein Flickenteppich autonomer Regionen. Da stellte sich die Frage: Was ist das Band, das uns eint? Die Varusschlacht wurde von den Nationalisten neu entdeckt und eignete sich aus ihrer Sicht hervorragend als Klammer. Das Motto lautete: Wir waren damals vereint und können es wieder werden. Man kreierte diese grosse Heldenerzählung im Versuch, eine Einheit heraufzubeschwören. Mit den historischen Fakten hatte das wenig zu tun. Arminius taufte man einfach in Hermann um.
Auch die Nationalsozialisten setzten auf diese Propaganda.
Ja. Im 19. Jahrhundert bekam diese Rhetorik eine noch stärkere rassistische und antisemitische Prägung. Auch die Terminologie wurde immer aggressiver. Man sprach den Gegnern zunehmend ihre Menschlichkeit ab, nannte sie «Erzfeinde» und «Ungeziefer», wie das auch die Nazis später taten. Interessanterweise waren die Varusschlacht und Hermann vor allem im Wahlkampf der Nationalsozialisten bis 1933 stark vertreten, später weniger.
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«Das Thema Wikinger boomt, ist aber langsam ausgereizt.»
Was weiss man tatsächlich über die Germanen oder Barbaren, wie sie in der Netflix-Serie heissen?
Eigentlich gab es die Germanen als Gruppe nicht. Das ist ein grosses Missverständnis. Sie haben sich auch selbst nie so bezeichnet. Um das Jahr null lebten sehr viele verschiedene Gruppen auf dem Gebiet des heutigen Norddeutschland. Arminius war beispielsweise Cherusker. Die Gruppen waren untereinander teilweise verfeindet. Sie hätten sich selbst niemals als Volk geschweige denn als Nation empfunden. Es war eine bunte Mischung unterschiedlich strukturierter Stammesgesellschaften.
Was gibt es für historische Quellen?
Hätten die Germanen doch mal was aufgeschrieben (lacht). Die schriftlichen Quellen stammen nur von Römern. Wie immer in der Geschichtsschreibung müssen wir uns bei einer Quelle überlegen, wer spricht und was sie oder er für ein Interesse hat. In diesem Fall gab es auch ein Element der Rechtfertigung, weil die Römer eine Niederlage kassiert hatten. Der wichtigste Bericht zur Schlacht ist vom griechisch-römischen Chronisten Cassius Dio. Von den Germanen allgemein hat der römische Historiker Tacitus erzählt. Beide Männer waren zum Zeitpunkt der Schlacht noch nicht geboren, sondern müssen sich auf mündliche oder nicht überlieferte schriftliche Quellen gestützt haben.
Heute hilft die Archäologie – was weiss man über diese Menschen?
Es waren keine Halbwilden aus dem Wald, das ist Quatsch. Sie pflegten eine bäuerliche Lebensweise, betrieben Ackerbau und eine Waldweidewirtschaft. Es waren meist Gruppen von kleinen Höfen. Auch das Bild vom grossen dunklen Wald, mit dem Deutschland bedeckt gewesen sein soll, ist falsch. Der Urwald verschwand in Mitteleuropa schon rund 4000 v. Chr.
Wie lässt sich das mit der Schweiz zu jener Zeit vergleichen?
Die Schweiz war stärker unter keltischem Einfluss. Im Grunde sind es aber alles bäuerliche Gesellschaften, die sich in ihrer Lebensweise ähnelten. Aber das Gebiet der heutigen Schweiz lag näher am Römischen Reich und geriet deshalb auch schon früher ins Visier.
Wir wissen also noch viel zu wenig über die Germanen?
Auf jeden Fall. Ich finde es aber wichtig, dass wir ihre Geschichte nicht den Rechtspopulisten überlassen. Wir sollten viel mehr erforschen, was das wirklich für Menschen waren und wie sie gelebt haben. Noch sind sehr viele interessante Fragen offen. Dass sie jetzt auch als TV-Serie Aufmerksamkeit bekommen, hat wohl auch damit zu tun, dass das Thema Wikinger boomt, aber langsam ausgereizt ist. Da suchen die Produzenten nach etwas scheinbar Ähnlichem.
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