Reisen nach CoronaNeustart oder zurück zum Massentourismus?
Wird sich das Reisen verändern, wenn es wieder möglich ist? Orte wie Venedig, Amsterdam oder Mallorca denken über nachhaltigen Tourismus nach.
Schon bevor das Virus kam, knirschte es gewaltig. Die Welt stand offen, doch der Preis des Reisebooms war vielerorts hoch. «Eine Stadt, die erstickt wird, verliert ihre Identität», antwortet etwa Francesco Penzo, der sich seit Jahren für ein lebenswertes Venedig engagiert, wenn man fragt, wie das vor der Pandemie war mit dem Overtourism in seiner Heimatstadt. «Wenn eine Grenze überschritten wird, ist das zerstörerisch... Regeln sind nötig, und vor allem Gleichgewicht.»
Nun wartet die Reisewelt auf einen Neustart. Und die Frage drängt sich auf: Sind die Chancen auf Balance und Fairness besser geworden – oder gar schlechter als je zuvor?
Manche Stadt hat schon Wandel versprochen. Amsterdam ging zuletzt das Thema Drogentourismus an – künftig sollen Coffeeshops Einheimischen vorbehalten bleiben, wie in anderen Teilen der Niederlande. Man wolle eben nicht mehr «die Touristen, die nur hierher kommen, um betrunken und stoned herumzulaufen», erklärte die grüne Bürgermeisterin Femke Halsema im Januar. Oder das Programm «Rinasce Firenze», «Florenz wird wiedergeboren», ein Titel in Anspielung auf die glanzvolle Renaissance-Vergangenheit der Stadt. Zwei Milliarden Euro sollen bei der Neuerfindung helfen, damit Florenz grüner und sozialer wird – auch nachhaltigerer Tourismus spielt dabei eine Rolle, etwa durch bessere Gestaltung des öffentlichen Raums und die Verteilung von Gästen ins Umland. Zwei Beispiele für Initiativen, die aus den Rathäusern klassischer Hotspots kommen, also politisch gewollt sind.
Massen gelten nun als Gefahr
Overtourism, so heisst es in der aktuellen Studie «Tourismus, eine ethische Risikoanalyse» der Hamburger Stiftung für Wirtschaftsethik, bedeute letztlich Verteilungskonflikte zwischen Einheimischen und Gästen. Die Pandemie habe insofern zu einem Perspektivwechsel geführt, als Massen nun als Gefahr gelten. Das habe 2020 auch hierzulande Eingriffe ermöglicht, die vorher undenkbar waren. «Alles, was die Freiheit von Touristen einschränkt, ist doch immer mit Kritik und grosser Empörung einhergegangen», erläutert Miriam Putz, eine der Verfasserinnen. «Wären etwa Strandampeln an Nord- und Ostsee vor der Pandemie einfach so als präventive Massnahmen eingeführt worden, hätte das sicher zu einem Aufschrei geführt.» Paradoxerweise würden nun solche Instrumente zu vertrauensbildenden Massnahmen, mit denen man um neue Gäste werben könne.
Dass es durch die Pandemie zu einem «Nachhaltigkeitsschub» in der Reisebranche kommt, halten die Autoren der Hamburger Studie allerdings für unwahrscheinlich. Dies sei «vor dem Hintergrund der Strukturen und Geschäftsmodelle wenig plausibel». Wenngleich der Wunsch nach Veränderung weit verbreitet sei, so Putz. Diesen Wunsch erkennt auch Antje Monshausen, die sich beim evangelischen Hilfswerk Brot für die Welt für verantwortliches Reisen einsetzt. Die Corona-Krise habe der Debatte Schub verliehen, sagt sie. «So viele Manifeste und Selbstverpflichtungen wie 2020 gab es nie – und erste Veranstalter und Tourismusbüros setzen neue Strategien auch um.»
Andrang im ländlichen Bereich
Beim Thema Overtourism geht sie, wie Miriam Putz, zunächst von einer Verlagerung des Problems aus: «Ich glaube, dass es an den zuvor überlaufenen Orten erstmal vergleichsweise ruhiger bleiben wird – der Wunsch nach Abstand wird uns auch beim Reisen erstmal begleiten. Der Andrang dürfte eher im ländlichen Bereich steigen, wie schon im vergangenen Sommer. Und gerade dort ist die Verletzlichkeit ja besonders hoch.» Unabhängig vom Reiseziel erwartet Monshausen, dass in Zukunft unterschiedliche Trends parallel existieren: «Es wird mehr Menschen geben, die seltener, dafür länger und intensiver unterwegs sein wollen» – was ökologisch wie sozial positive Folgen hätte. «Und es wird viele Menschen geben, die sich – gerade jetzt, pandemiemüde – einfach mal quer in die Sonne legen wollen.»
Besonders Letzteren dürften Veranstalter beim Neustart Angebote machen, die wenig mit Nachhaltigkeit zu tun haben. Monshausen vermutet, dass dieses Jahr «erstmal alles auf den Markt kommen wird, was irgendwie geht». Solche Strategien nach krisenhaften Einschnitten seien leider nichts Neues, etwa, als nach Terroranschlägen Pauschalpakete zum Dumpingpreis nach Tunesien locken sollten. Auch Putz befürchtet einen harten Wettbewerb, der wieder auf Masse zielen wird. So glänzend es der Branche bis 2020 gegangen sei, so gebeutelt sei sie jetzt: «Nun geht es für Anbieter darum, zu überleben – und die Kapazitäten wieder zu füllen.»
Lieber ein schlecht bezahlter Job als gar keiner
Doch auf wessen Kosten? Wenn jemand «eine Woche im Paradies für 500 Euro» angeboten bekomme, sei es wahrscheinlich, «dass sich hinter der Postkartenidylle eine ganze Welt der Ausbeutung verbirgt», sagt Myriam Barros. Sie kämpft in Spanien seit Jahren für bessere Arbeitsbedingungen des Reinigungspersonals. Als Vorsitzende der Organisation «Las Kellys» wurde sie 2019 mit dem «To Do Award Human Rights in Tourism» ausgezeichnet. Von ihrem eigenen Job in einem Hotel auf Lanzarote ist sie derzeit freigestellt, um für die öffentliche Verwaltung der Insel arbeiten zu können, doch sie engagiert sich weiter. Die bereits vor Corona prekären Bedingungen hätten sich nun noch verschlimmert, erklärt die 42-Jährige. Wegen der Hygienevorschriften müsse ja noch intensiver gereinigt werden, oft in der selben knappen Zeit wie früher, für weniger Geld und ohne Schutzkleidung: «Es ist aber unmöglich, ein Zimmer in 15 Minuten zu desinfizieren.»
Wenn ihre Hotels geschlossen sind, bekommen viele Beschäftigte im spanischen Tourismus wegen ihrer befristeten Verträge kaum staatliche Unterstützung, so Barros. Die mittlerweile verheerende Situation erschwere damit auch den Kampf für faire Arbeitsbedingungen. Viele Einheimische hätten «lieber einen schlechten Job als gar keinen».
Konflikte gab es vor der Pandemie nicht nur zwischen Reisenden und Einheimischen, sondern zwischen den Einheimischen selbst: Je nachdem, ob diese eher Vor- oder Nachteile im Tourismus sahen. Protestgruppen rufen auch seit dem Crash zu grundsätzlichem Umdenken auf. Die venezianische Initiative «No Grandi Navi» etwa, bekannt geworden durch spektakuläre Aktionen gegen Kreuzfahrtschiffe, bleibt bei ihren Forderungen, die «touristische Monokultur» abzuschaffen und die Lagunenstadt nicht nur für die Reichen zu erhalten. Wie in Florenz fällt in Venedig der Begriff Wiedergeburt. Und diese, so hiess es etwa in einem Demonstrationsaufruf im Juni 2020, könne nur gelingen, wenn die Stadt im Sinne ihrer verbliebenen Bewohnerinnen und Bewohner gestaltet werde. Und nicht zugunsten von Spekulanten und Abzockern. Bemerkenswert dabei ist, dass das Wohl künftiger Gäste mit berücksichtigt wird: Zum Beispiel soll die örtliche Gastronomie sich an die Einheimischen richten, aber auch «ehrlich gegenüber den Touristen» sein.
Alter Konflikt zwischen den Einheimischen
Auf Mallorca, von wo derzeit bedrückende Nachrichten über die Verarmung Tausender Menschen kommen, haben der Philosophieprofessor Joaquín Valdivielso und der Biobauer Jaume Adrover im Februar eine sozialkritische Streitschrift publiziert, in der von «organisierter Verwundbarkeit» die Rede ist. Die Pandemie habe schonungslos die Mechanismen in extrem vom Tourismus abhängigen Orten enthüllt. Unter Slogans wie «Rückkehr zur Normalität» sei schon nach der ersten Welle enormer Druck aufgebaut worden, die Inseln schnell wieder zu öffnen, schreiben die Verfasser. Dabei habe man sogar die Gesundheit der Bevölkerung gefährdet. Diese Vorgänge auf den Balearen bewiesen, dass in einer Tourismuskrise nicht alle dieselben Rechte geniessen, sondern das Geschäft priorisiert werde. Es sei entsprechend unverantwortlich, sich weiter von einem Wirtschaftszweig derart abhängig zu machen.
So läuft es an den Traumzielen offensichtlich auch auf einen neuen und zugleich alten Konflikt zwischen den Einheimischen hinaus. Seine Stadt etwa, da ist sich der Venezianer Penzo sicher, gehe aus der Krise «noch polarisierter» hervor. Auf der einen Seite diejenigen, die so rasch wie möglich die alten Verhältnisse wieder herstellen möchten – wobei ihr persönliches Interesse jede ehrliche Debatte über Nachhaltigkeit unmöglich mache. Und auf der anderen Seite diejenigen, «die ohne persönliche Vorteile die vielen Nachteile erleben und ertragen». Und das, während die wahren Profiteure oft nicht einmal in der Lagunenstadt lebten.
Er sei «nicht optimistisch», sagt Penzo, sondern erwarte «eine noch stärkere soziale Spaltung». Denn vieles deute darauf hin, «dass es noch schlimmer wird, sobald wir zur sogenannten Normalität zurückkehren». Wenn nämlich die wirtschaftliche Krise zu einem Totschlagargument werde, um dem Massentourismus sogar noch mehr Raum zu überlassen.
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