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«Die Entflammten» von Simone Meier
Suff, Syphilis und die Frau, die Van Gogh berühmt gemacht hat

Vielleicht wird ihr neues Buch bald verfilmt: Die Autorin und Kulturjournalistin Simone Meier (53) wurde mit «Die Entflammten» an die Solothurner Filmtage und zur Berlinale eingeladen.
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Keiner der Männer in diesem Buch ist wirklich lebensfähig. Sie sind alkoholkrank, ringen um Anerkennung, leiden an ihrer Zeit und stecken sich im Bordell mit Syphilis an, sind liebestrunken und dabei sentimental.

Klar, da sagen Sie jetzt: Nein danke, das muss ich nicht lesen. Moment, das Gute ist, wir begegnen zwischen all den phlegmatischen Männern einer Frau, die um 1900 in Frankreich und Holland alles zusammengehalten hat. Jo van Gogh-Bonger ist studiert, smart, waghalsig und entschlossen. Ohne sie, und das ist wirklich wahr, wäre Vincent van Gogh (1853–1890) nie berühmt geworden.

Von ihr erzählt Simone Meier in ihrem vierten Roman «Die Entflammten» und nimmt sich damit erstmals eines historischen Stoffs an. Die zweite Auflage (insgesamt 10’000 Stück) wurde bereits vor Erscheinen wegen hoher Nachfrage gedruckt.

Ihre letzten drei Romane «Fleisch», «Kuss» und «Reiz» spielen zwar im Heute, erzählen aber genauso wie das neue Buch von Begehren, Gesehenwerdenwollen, Obsession, Kunst und Leiden. Randbemerkung: Je mehr die Autorin ihre Figuren leiden lässt, umso leichtfüssiger liest es sich. Schön!

Sie heiratet einen Mann und bekommt zwei dafür

Das berühmteste Ohr der Geschichte wird in «Die Entflammten» bereits auf Seite 42 abgeschnitten. Vincent van Gogh, zu Lebenszeiten erfolglos und sozial geächtet, löffelt in einer von vielen Krisen seine Farben von einem Teller. Wenn es die Bilder nicht mehr geben soll, dann auch den Maler nicht mehr. Sein Vergiftungsversuch scheitert. Dann schneidet er sich das Ohr ab, und weil ihn das nicht umbringt, schiesst er sich im Wahn in die Brust und stirbt.

Jo heiratet einen Mann und bekommt zwei dafür. Theo van Gogh gibt es nicht ohne Vincent. Theo finanziert den von Erfolglosigkeit und Visionen gequälten Bruder und wird selbst ganz krank davon – und von den heimlichen Bordellbesuchen. Kurz nach Vincent stirbt auch Theo an Syphilis. Jo wird noch vor dreissig zur Witwe. Ihr bleiben ein Sohn und die Bilder des Schwagers.

Während Jo noch einmal heiratet, ihr der zweite Mann ebenfalls davonstirbt, ein loser Liebhaber die Lücke füllt, kümmert sie sich darum, dass Van Goghs Kunst Publikum und Sammler findet, denn sie erkennt sein Talent: «Vincents Bilder sind feuerspeiende Wurfsterne, die in den Menschen stecken bleiben und dort etwas anrichten.»

Mrs Johanna van-Gogh-Bonger (1862-1925) was the wife of art dealer Theo van Gogh; and sister-in-law of the painter Vincent van Gogh and key player in the growth of Vincent s fame. WHA PUBLICATIONxINxGERxSUIxAUTxONLY !ACHTUNG AUFNAHMEDATUM GESCHÄTZT! Copyright: WHA UnitedArchivesWHA_054_0339

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Jo vermittelt geschickt zwischen Museen und Händlern. Und als sie Postkarten der Gemälde drucken lässt, staunt man und denkt, das war eine PR-Massnahme um 1900. Jo, die im Alter – «ihre blossen Arme gleichen welken Blumenstielen» – weniger von Männern wissen will, hat es zustande gebracht, dass Vincent van Gogh weltberühmt wurde.

Es macht übrigens nicht glücklich, die Fiktion arg faktenzuchecken. Aber das Personal und deren Lebensdaten stimmen mit der Wirklichkeit überein. Was zu beachten ist, wenn eine Autorin einen historischen Stoff fiktionalisiert? Das Erzählte muss in sich plausibel sein. Das ist Meiers Roman durchaus.

Zwei Frauen, die mehr als ein Jahrhundert trennt

Und weil es Fiktion ist, erfindet Meier auf der zweiten Ebene die junge Gina, über hundert Jahre trennen sie von Jo. Sie ist Mitte zwanzig, Studentin der Kunstgeschichte, die sich als Mädchen lieber in einen Frosch als eine Prinzessin verwandelte und Menschen mit blutigen Verbänden zeichnete. Als Mädchen entdeckt sie das Selbstporträt von Van Gogh mit Verband um den Kopf und macht sich später auf die Suche nach dem Leben der Jo van Gogh-Bonger.

Die Kapitel wechseln sich ab zwischen dem Leben der Jo van Gogh-Bonger und dem von Gina. Jo denkt während der Haushaltsschule, die sie widerwillig vor der Hochzeit besuchen muss, lieber über Lessing nach. Gina, die zu ihrem wehleidigen Vater, einem erfolglosen Gebrauchsliteraten, ans Meer fährt, um dort über Jo zu schreiben. Jo erscheint Gina öfter, die Leben der Frauen zwischen Kunst und Familie verschwimmen zunehmend ins Luzide.

Die Erzählung über Gina ufert ab und an aus. Meier erfindet ihr eine Oma, Mutter, Schwester und neue Vaterfreundin an die Seite, was sich launig liest, aber gerade die ausführlich erzählte Beziehung zur Schwester wäre eine Geschichte für sich.

Sprache und Syphilis

Die Autorin findet eine stimmige Sprache für die unterschiedlichen Milieus. «Meine Seele weinte so sehr, dass ihre Tränen fruchtbares Ackerland wegschwemmten, Bäume entwurzelten und eine überflutete Welt zurückliessen», das ist melodramatisch, aber nicht bemüht altertümlich.

Der gewisse meiersche Schalk, den man in den vorherigen Büchern, aber auch in ihren journalistischen Texten antrifft, funktioniert auch in dieser Geschichte um 1900. «Der Sarg und ich setzten uns in den Zug nach Paris, nicht nebeneinander natürlich», man stellt es sich trotzdem vor und muss lachen.

Und dann die Syphilis. Was für eine starke Passage im Buch, als Jo zu den Prostituierten geht, weil sie die Zersetzung von Körper und Geist ihrer verstorbenen Lebensliebe Theo verstehen will. Ihr gegenüber eine Frau, die auf der abgestorbenen Zunge kaut, die Augenlider vom Eiter aufgelöst. Und dann «greift Ninette mit den Fingern in ihren Schädel hinein und streckt Jo einen Klumpen ihres Gehirns entgegen, das unter der Krankheit zu einer sülzeartigen Masse geworden ist, erst verflüssigt, dann wieder eingedickt» und schlürft genüsslich das eigene Hirn. Das ist so gruselig wie medizinhistorisch und sozialgeschichtlich interessant.

Meier nimmt einen mit in das leidenschaftliche und farbige Leben der Jo van Gogh-Bonger und bringt ihre Geschichte dank der Form des Romans in die Bücherregale der souveränen Unterhaltung.

Am Dienstagabend, 30. Januar, wird «Die Entflammten» im SRF-«Literaturclub» besprochen. Buchpremiere 5. März, Literaturhaus Zürich.

Simone Meier: Die Entflammten. Verlag Kein & Aber, 2024. 265 S., ca. 30 Fr.