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Sexismus im Literaturbetrieb
Die deutschsprachige Literatur hat ein Frauenproblem

Austrian poet and writer Ingeborg Bachmann is seen in this September 14, 1965 photo.(AP Photo)
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Wie viele der Bücher, die Sie im letzten Jahr gelesen haben, haben Frauen geschrieben? Wahrscheinlich weniger als jene, die von Männern stammen. Denn: Wer sich nicht bewusst dafür entscheidet, mehr Frauen zu lesen, liest Männer.

Das sagt zumindest die Literaturwissenschaftlerin Nicole Seifert. Sie attestiert dem deutschsprachigen Literaturbetrieb ein Frauenproblem. Dies habe viel mit der Literaturgeschichte zu tun. Ihr Buch «Einige Herren sagten etwas dazu» widmet Seifert nun den Frauen der Gruppe 47, die vergessen gingen.

Die Gruppe 47 – benannt nach dem Jahr ihrer Gründung – war die einflussreichste Gruppierung von deutschsprachigen Schriftstellerinnen und Schriftstellern. Zwischen 1947 und 1967 trafen sich klingende Namen wie Martin Walser, Günter Grass oder Heinrich Böll regelmässig zu Tagungen, an denen sie sich gegenseitig Texte vorlasen und sie anschliessend diskutierten.

Im Grossen und Ganzen war es eine Männerveranstaltung. Die einzigen bis heute berühmten Schriftstellerinnen, die dazugehörten, waren Ingeborg Bachmann und Ilse Aichinger. Zwei der 26 Frauen, die neben 178 Männern mindestens einmal in der Gruppe 47 vorgelesen haben.

Systematisch herabgewürdigt und sexualisiert

Seifert erzählt die Anekdote, wie ein Mann einem anderen vor der Lesung von Ruth Rehmann zuraunte: «Die Dame ist fürs Feuer.» Sie erwähnt, wie die Schriftsteller bei Ilse Aichinger in den Worten von Hans Werner Richter, dem Gründer und Kopf der Gruppe 47, «ein wenig die Contenance verloren» und «ein hoffnungsvoller junger Lyriker» plötzlich unaufgefordert nackt in ihrem Bett lag.

Für ihr Sachbuch hat Seifert mit noch lebenden Autorinnen gesprochen und Tagebücher, Zeitungsartikel und Berichte ausgewertet. Seifert zeigt: Frauen haben zu dieser Zeit genauso wie die Männer über Krieg und Antifaschismus geschrieben. Haben sogar zusätzlich das Leben im Exil und die weibliche Identität zu Themen gemacht. Dafür wurden sie von Kritikern – beispielsweise Marcel Reich-Ranicki – und Schriftstellerkollegen der Gruppe 47 systematisch herabgewürdigt und sexualisiert.

Seifert analysiert die Rezeption von Ingeborg Bachmanns Werken, deren Romane über patriarchale Gewalt abwertend als «Frauenliteratur» bezeichnet wurden. Frauen könnten zwar Lyrik schreiben, aber keine Romane, hiess es.

Seifert lässt Gisela Elsner zu Wort kommen, die in ihrer Literatur einen satirischen Blick auf das Deutschland der Nachkriegszeit warf. Doch die Kritiker ignorierten die Gesellschaftskritik, die darin steckte. «Denn dass eine Frau es gewagt hat, einer schriftstellerischen Tätigkeit nachzugehen, wird ihr von der bürgerlichen Literaturkritik nur verziehen, wenn sie sich in ihren Büchern darauf beschränkt, ausschliesslich Themen zu behandeln, die von den männlichen Kritikern als weibliche Themen betrachtet werden», so Elsner.

«Wir waren keine Opfer»

Die noch lebende Autorin Ingrid Bachér, die in den 1950er-Jahren Teil der Gruppe 47 war, äussert sich in einem Interview zu Seiferts Buch. «Wir waren keine Opfer», sagt sie. Sie habe in der Gruppe 47 nie eine Ungleichbehandlung erlebt. Ebenso kritisiert die Grossnichte von Hans Werner Richter das Buch. Seifert würde Werner Richter als «despotischen Herrscher» darstellen und Zitate aus dem Kontext reissen. Es gebe zudem auch viele Männer der Gruppe, die inzwischen vergessen seien.

Ingrid Bacher (Schriftstellerin) - 26.9.1999

Einen von Männern dominierten und geprägten Literaturbetrieb, der bis in die Gegenwart hineinreicht, beschreibt Nicole Seifert auch bereits in ihrem ersten Buch «Frauenliteratur. Abgewertet, vergessen, wiederentdeckt».

Sie beschreibt darin die Vorgänge, die dazu führen, dass den Werken von Frauen auch heute noch Relevanz abgesprochen wird und dass Autorinnen weniger oder anders herausgegeben und besprochen werden. Und belegt es mit konkreten Zahlen aus Studien, die Verlagsprogramme und Rezensionen in Medien ausgewertet haben.

In «Einige Herren sagten etwas dazu» liefert Seifert nun den historischen Hintergrund. Sie mischt Analyse und Erzählung, beschreibt szenisch die Treffen der Gruppen und taucht in die Erlebnisse und Gefühle der Schriftstellerinnen ab.

Seifert lässt viel Platz für Zitate und stellt solche von Kritikern denen der Schriftstellerinnen gegenüber. Sie zeigen, wie verschieden die subjektiven Wahrnehmungen waren. Das macht die Kritik von Ingrid Bachér nachvollziehbar und bestätigt gleichzeitig die Vielfalt der Autorinnen in der Gruppe 47. Sodass man beim Lesen letztlich vor allem eins hat: Lust, mehr Frauen zu lesen.

Nicole Seifert: «Einige Herren sagten etwas dazu». Die Autorinnen der Gruppe 47. Kiepenheuer & Witsch, 2024. 352 S., ca. 34 Franken.