Die Chronik eines SkandalsAufmüpfiger Bauer wurde 20 Jahre in der Psychiatrie versorgt
Behörden und Ärzte stuften einen Mann gegen besseres Wissen als gemeingefährlich ein. Ein Gutachten der Waldau gab ihm die Freiheit zurück.
Über die Festtage publizieren wir aufsehenerregende Texte der letzten Monate nochmals. Dieser Artikel erschien erstmals am 27.8.2023.
Der Hof Herrenbächlen liegt auf einer Anhöhe über Münsingen. Das Bauernhaus und das Stöckli sind von Birken, Kastanien- und Obstbäumen umgeben, das Panorama reicht vom Gantrisch bis zur Jungfrau. Auf der Wiese nebenan weiden Kühe, im Hoflädeli gibts Bouquets aus Trockenblumen zu kaufen.
Diese Idylle zog einst auch Friedrich Amstutz an. Vielleicht, weil sie so stark mit seinem bisherigen Leben kontrastierte. Gegen seinen Willen hatte er fast zwei Jahrzehnte in der Psychiatrie verbracht. Am Ende war er so verbittert, dass er auf viel Geld verzichtete. Stattdessen klopfte er 1954 beim Münsinger Hof an und bat um Arbeit.
«Warum er das tat, ist eines der grossen Rätsel in diesem Leben», sagt Niccolò Raselli. «Und es macht ihn auf spezielle Art sympathisch.» Raselli ist ehemaliger Bundesrichter und Oberrichter im Kanton Obwalden. Er hat ein Buch über Amstutz geschrieben. Es ist die Chronik eines Skandals.
«Ich möchte Friedrich Amstutz, wenn auch spät, Gerechtigkeit widerfahren lassen.»
Als Richter in Sarnen erfuhr Raselli zu Beginn der 1980er-Jahre von einer Frau, die sich um ein Erbe betrogen fühlte. Es war die Schwester von Friedrich Amstutz. So stiess er auf dessen Schicksal. «Die Geschichte liess mich nicht mehr los», schreibt er im Buch. Aber erst nach der Pensionierung fand er Zeit, ihr nachzugehen.
Er sichtete Akten der Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde, von psychiatrischen Kliniken, durchforstete Gerichtsunterlagen, Vormundschaftsakten und Gemeinderatsprotokolle. Und zeigt nun auf, wie sich Amstutz immer tiefer «in den Fängen von Justiz und Psychiatrie» verlor, wie es im Titel heisst.
«Ich möchte Friedrich Amstutz, wenn auch spät, Gerechtigkeit widerfahren lassen», schreibt Raselli. Dessen Name stehe für einen beispielhaften Fall «wiederholten behördlichen und ärztlichen Versagens».
Erfolgreicher Bauer eckt an
Friedrich Amstutz wurde 1891 geboren und wuchs in Engelberg im Kanton Obwalden auf. Als ältester Sohn erbte er den elterlichen Hof. Er führte erfolgreich eine «Milch-, Rahm-, Butter- und Käsehandlung». Von den Milchlieferanten wurde er geschätzt, das Geschäft wuchs, aber auch der Neid bei den Konkurrenten, etwa der Käserei des Klosters Engelberg.
Mitten im Dorf betrieb Amstutz einen Schweinestall. Er befand sich neben dem Hotel Edelweiss und einer Villa, die einem Apotheker gehörte. Dieser war auch Mitglied des Engelberger Gemeinderats und berichtete an einer Sitzung, dass der Stall «für die Nachbarn unannehmbar und lästig» sei.
Im August 1933 forderte der Gemeinderat Amstutz auf, die Schweine «innert 48 Stunden» zu entfernen, damit «die öffentliche Ordnung nicht mehr gestört und die Gesundheit der Bevölkerung nicht mehr weiter gefährdet» werde. Amstutz widersetzte sich, worauf der Gemeinderat Strafklage erhob.
Ein Gutachten mit Folgen
Kurz darauf wurde Amstutz «wegen verschiedener neuer Delikte (Terrorakte)» verhaftet, so die spätere Begründung: Amstutz habe Tannen angesägt und einen Schreckschuss abgegeben. Amstutz verhielt sich tatsächlich oft sehr aufmüpfig, ihm wurden immer wieder Delikte zur Last gelegt, zu Recht und wohl auch zu Unrecht. Oft fehlten Beweise.
Der Gemeinderat beschloss, ein psychiatrisches Gutachten einzuholen. Gründe dafür waren sein Verhalten, die «vielen Vorstrafen» und der Verdacht auf «unrationales Wirtschaften». Amstutz wurde von der Haft in die Heilanstalt Burghölzli in Zürich verlegt. So hatte es eine andere Behörde, der Bürgergemeinderat von Engelberg, entschieden.
Im September 1933 erstellte Burghölzli-Oberarzt Herbert Binswanger ein psychiatrisches Gutachten. Er habe «keine Anhaltspunkte für das Bestehen einer Geisteskrankheit im engeren Sinne» gefunden, schrieb er zunächst. Doch er stufte ihn als «gemeingefährlich» ein.
Raselli sagt, dass sich der Gutachter vom Gemeinderat habe manipulieren lassen – und sich dessen bewusst gewesen sei. Die Behörden wollten den Querulanten einfach loswerden. Um aber eine Internierung zu rechtfertigen, war eine «Geistesschwäche» zwingend. Raselli kann belegen, dass Binswanger diesen Befund nachträglich von Hand in das ansonsten mit Schreibmaschine verfasste Gutachten eingefügt hatte. Damit widersprach der Arzt seiner eigenen Einschätzung ein paar Seiten weiter vorne.
Amstutz’ Schicksal war damit besiegelt. Das Burghölzli-Gutachten wurde später immer wieder herangezogen und gegen ihn ausgelegt.
Elektroschocks gegen eigenen Willen
Im Herbst 1937 wurde Amstutz in die Luzerner Klinik St. Urban in der Nähe von Langenthal überführt. In der Krankenakte wurde bald notiert: «Weigert sich anhaltend entschieden, etwas zu arbeiten, nicht einmal bei Hausarbeit hilft er mit, er habe nun genug für fremde Leute gearbeitet, er wolle wieder nach Hause und in seinem eigenen Betrieb arbeiten.»
«Sie werden mich jetzt aus der Anstalt entlassen. Sie haben mein Leben verhunzt.»
Amstutz liess nichts unversucht, erhob immer wieder Beschwerde bei der Gemeinde, beim Obwaldner Regierungsrat, gar beim Bundesgericht. Er sei weder geisteskrank noch gemeingefährlich, erklärte er immer wieder. Einmal schrieb er: «Sie werden mich jetzt aus der Anstalt entlassen und Rechte und gewesener Besitz zurückerstatten.» Entschädigung wolle er keine. «Sie haben mein Leben ohnehin verhunzt.»
Doch er hatte keine Chance. Im Jahr 1941, vielleicht auch noch später, wurde Amstutz regelmässig mit Elektroschocks behandelt – zu jener Zeit ohne Narkose, was mit grossen Schmerzen verbunden war und zu Verletzungen führen konnte. Amstutz bat vergeblich, die Tortur einzustellen.
Raselli schreibt dazu, dass die Elektroschocks keinen therapeutischen, sondern viel mehr einen disziplinierenden Zweck gehabt hätten.
Die Erlösung in der Waldau
Der Gesundheitszustand verschlechterte sich immer mehr, wie Auszüge aus den Akten zeigen. «Seine zunehmende Verstocktheit und gewisse Querulanz wurden als pathologisch qualifiziert», sagt Raselli. Doch man habe sich nicht überlegt, ob sie auch eine Folge der Internierung sein könnte.
Amstutz’ Leidensgeschichte endete erst 1950 mit dem Eintritt in die Berner Psychiatrieklinik Waldau. Von der Obwaldner Regierung beauftragt, verfasste der stellvertretende Waldau-Direktor Jakob Wyrsch ein neues Gutachten. «Eine Anstaltsentlassung des Patienten Friedrich Amstutz kann heute verantwortet werden», schrieb Wyrsch. Eine Gemeingefährlichkeit des Patienten sei nicht mehr zu befürchten.
Und als er später von einem Obwaldner Regierungsrat gefragt wurde, ob Amstutz «überhaupt einmal» gemeingefährlich gewesen sei, antwortete Wyrsch: «Herr Regierungsrat, Sie mögen recht haben; er war es nie.»
Der so rehabilitierte Amstutz forderte eine Abfindung von 300’000 Franken, doch die Engelberger Behörden gingen nicht darauf ein. Wyrsch versuchte vergebens, Amstutz zu einer Rückkehr in sein Heimatdorf zu bewegen. Dieser weigerte sich auch, sein verbliebenes Vermögen von 50’000 Franken anzutreten. Lieber wurde er in Münsingen Knecht, wie man damals sagte.
Die Fehler der Behörden
Wie konnte es so weit kommen? «Die Gemeinde hat sich in eine Sache einspannen lassen, die eigentlich vor den Zivilrichter gehört hätte», sagt Autor Raselli. Zudem sei der mit Amstutz verfeindete Nachbar, der auch im Gemeinderat sass, nie in den Ausstand getreten.
Gleich verfuhr auch Walter Amstalden, ein Rechtsanwalt, Ständerat und Obwaldner Regierungsrat. Er war zugleich Anwalt der Gemeinde Engelberg. Er trug die Entscheide der Kantonsregierung in Sachen Amstutz mit.
Der Rechtsschutz, sagt Raselli, sei damals kleingeschrieben worden. Betroffene hätten sich nicht an kantonale Gerichte wenden können. Der Fürsorgerische Freiheitsentzug sei erst Ende der 1970er-Jahre geregelt worden. «Ein so krasser Fall dürfte heute nicht mehr passieren», sagt der ehemalige Bundesrichter. Das heisse aber nicht, dass es keine psychiatrischen Einweisungen aufgrund fragwürdiger Entscheide mehr gebe.
Ein verschwiegener Landarbeiter
Friedrich Amstutz lebte noch rund 17 Jahre auf dem Hof Herrenbächlen bei der Familie Gfeller. Raselli konnte im September 2021 für sein Buch mit einem Familienmitglied sprechen: Ernst Gfeller, der kürzlich gestorben ist, hatte als Bub Amstutz noch erlebt. Seine Eltern, die damals den Hof führten, hätten wohl nichts von den jahrelangen Internierungen gewusst, sagte er zu Raselli. Dass er aus einer Klinik kam, aber schon.
Amstutz sei ein ausgesprochener Einzelgänger gewesen, erzählte Gfeller. Kontakte zu anderen habe er nicht gehabt, gearbeitet habe er am liebsten allein, in die Ferien sei er nie gefahren. «Er gab einfach nichts, aber auch gar nichts aus seinem Leben bekannt.» Dabei sei er aber umgänglich gewesen, er habe sich an den Kindern erfreut. «Wir achteten und respektierten ihn, so wie er war.»
Friedrich Amstutz starb im März 1971 nach einem kurzen Spitalaufenthalt in Münsingen.
Niccolò Raselli: Friedrich Amstutz – Ein Innerschweizer Leben in den Fängen von Psychiatrie und Justiz. 148 Seiten, Schwabe-Verlag.
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