Der Unterhaus-Star, der die Brexit-Hardliner verärgert
Speaker John Bercow hat sich im britischen Parlament zum Gegenspieler von Premierministerin Theresa May entwickelt. Wie viel Macht er tatsächlich hat.
Lange Jahre kümmerte die Briten nicht sonderlich, was sich tat in Westminsters legendärem Raum mit den grünen Bänken. Zu Zeiten Tony Blairs oder David Camerons plätscherte der Unterhaus-Betrieb relativ friedlich vor sich. In einer Zeit klarer Mehrheiten oder fester Koalitionen spielten sich die grossen Dinge in Downing Street ab oder in den Ministerien.
Die stundenlangen Debatten mit ihren antiquierten Konventionen im «House of Commons» interessierten nur wirklich Politik-besessene Zeitgenossen und die Berichterstatter. Nach den erstmals 1989 im Fernsehen übertragenen Reden und Abstimmungen schaltete sich kaum jemand regelmässig zu.
Auch das hat sich aber, wie so vieles, mit dem Brexit geändert. Gerade ist gemeldet worden, dass der Parlamentskanal der BBC mit seinen Live-Übertragungen aus dem Palast von Westminster in der dritten Januarwoche durchschnittlich 300'000 Zuschauer vor den Bildschirm lockte – mehr als der kleine Reality-TV-Sender MTV.
Bercow verteidigt Interessen des Parlaments
Inzwischen ist die «Chamber» mit ihren vielen sonderbaren Traditionen aller Welt vertraut. Wie die wöchentliche Fragestunde der Premierministerin abläuft; wie «Backbenchers» aufspringen müssen, um aufgerufen zu werden; wie kein Mitglied der Kammer, kein «Member of Parliament» (MP), beim Namen genannt werden darf; wie sich alles an den Verhandlungsleiter, an «Mr Speaker», wendet; wie nach einer Abstimmung die vier «Tellers», die Auszähler, Aufstellung nehmen: Das sind nur einige der vielen mysteriösen Regeln, die die «Mutter der Parlamente» kennt.
Nunmehr fliegen die Funken, zwischen den «Frontbenchers» und ihm.
Mr Speaker selbst, der frühere Tory-Politiker John Bercow, der sich bei seiner Wahl zum Speaker im Jahr 2009 zu strikter Neutralität verpflichten musste, hat es in jüngster Zeit geradezu zu globaler Prominenz gebracht. Das hängt damit zusammen, dass der 56-Jährige seit jeher das Ziel verfolgt hat, die Interessen der Volksvertretung gegenüber der Exekutive zu verteidigen.
Das Brexit-Chaos seit 2016 und Theresa Mays Verlust ihrer absoluten Unterhaus-Mehrheit 2017 haben ihm dazu Gelegenheit gegeben. Nunmehr fliegen die Funken, zwischen den «Frontbenchers» und ihm.
Das ist kein Wunder. Denn Bercow verschafft nicht nur dem von May gern ignorierten Parlament eine kollektive Stimme. Er setzt sich bisweilen auch, was die ungeschriebene Verfassung Grossbritanniens erlaubt, mit Neuerungen über Regierungsbefugnisse hinweg. Zum Beispiel war bislang die Festsetzung der parlamentarischen Geschäftsordnung allein Sache der Regierung.
Nun hat Bercow einen Antrag für zulässig erklärt, der diese Regel untergräbt – und den Parlamentariern gänzlich neue Rechte verschafft. So ist Premierministerin May dazu gezwungen worden, bereits fünf Sitzungstage nach der historischen Niederlage ihres Brexit-Deals im Unterhaus neue Pläne zu präsentieren. Sie selbst hatte 21 Tage warten wollen, um den Druck auf widerborstige Hinterbänkler, mit immer grösserer Nähe zum Exit, zu erhöhen.
Vorwurf der mangelnden Neutralität
Auch dass das Parlament überhaupt zu Mays Deal «in sinnvoller Weise» befragt werden musste, hat Bercow mit bewerkstelligt. Als Nächstes will er dafür sorgen, dass die Parlamentarier eigene Brexit-Pläne durchsetzen können, so lange die Regierung entscheidungsunfähig ist – vorausgesetzt natürlich, dass sich das Unterhaus selbst auf etwas verständigen kann.
Noch in den 90er Jahren zählte er zum Tross der vehement anti-europäischen Rechten in seiner Partei.
Diese Manöver Bercows haben zu Empörung geführt bei Brexit-Hardlinern und Regierungsvertretern. Die Bercow-Gegner sind der Überzeugung, dass der Speaker seine Neutralität aufgegeben hat und den Brexit sabotieren will.
Als Beweis dafür dient ihnen, dass Bercow einmal einer Gruppe Studenten anvertraute, er habe für Verbleib in der EU gestimmt 2016. Und dass seine Frau Sally, die der Labour Party angehört, einen Anti-Brexit-Aufkleber auf dem Auto hat.
In der Tat ist Bercow eine kuriose Figur. Noch in den 90er Jahren zählte er zum Tross der vehement anti-europäischen Rechten in seiner Partei – und machte daraus kein Geheimnis. Einmal zum Speaker gewählt, und von seiner Frau offenbar über dies und das aufgeklärt, änderte er aber manche seiner Ansichten von Grund auf.
Hausverbot für US-Präsident Trump
Neuerdings halten ihn die Oppositionsparteien und eine ausreichende Zahl konservativer Hinterbänkler im Amt, aus dem ihn andere Tories am liebsten zur Exekution in den Tower schleppen würden. Selbst Kritik an ihm wegen zuweilen ruppigen bis schikanösen Auftretens hat ihm nichts anhaben können – bisher.
Übel aufgestossen ist manchen Konservativen auch, dass Bercow dem US-Präsidenten Donald Trump praktisch Hausverbot in Westminster erteilte, weil er Trumps «rassistisches und sexistisches» Verhalten nicht billigte. Bercow ist seinen Gegenspielern nicht bloss ein Ärgernis in einer Robe. Er hält konkrete Macht in Händen. Das ist für sie das Problem.
Mehr Einfluss als die Abgeordneten
Denn der Speaker bestimmt, welche Anträge für Abstimmungen ausgewählt und welche Abgeordneten bei Debatten aufgerufen werden. Er wirkt still hinter den Kulissen. Er interpretiert unklare Fälle, wie er es für richtig hält. Er kann den Leuten auf den grünen Bänken neue Möglichkeiten der Einflussnahme eröffnen. Er gibt sehr viel öfter als frühere Speaker grünes Licht für «Dringlichkeits-Debatten», bei denen Minister Rede und Antwort stehen müssen. Und er hätte die entscheidende Stimme, wenn es zu einem Patt käme irgendwann.
Die Umstände dieser Tage haben Bercow eine Rolle zugespielt, die er nach Kräften nutzt – zu entsprechenden Reaktionen. «Im Sport», sinnierte Londons «Financial Times» jüngst, «geben manchmal die Schiedsrichter den Ausschlag.» Und in der britischen Politik übe der Speaker «oft mehr Einfluss aus als die Abgeordneten, die er zu beaufsichtigen hat».
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