Porträt eines FilmmusikersDer Mann, der unsere Gefühle entdeckt
Manchmal weint er schon, wenn er nur das Drehbuch liest. Der Basler Niki Reiser gehört zu den wichtigsten Filmmusikern, hat die Melodie für «Pünktchen und Anton» komponiert. Ein Besuch.
«Ta da ta da tadaaa.» Es sind nur wenige Töne, doch sie erzählen eine ganze Geschichte. Sie erzählen von Pünktchen und Anton, die beste Freunde sind und von ihren Eltern, die sich nicht um sie kümmern. Sie erzählen vom kindlichen Glück auf dem Trampolin und von den Sorgen danach.
«Ta da ta da tadaaa.» Es sind nur wenige Töne, doch bis er sie gefunden hat, verzweifelte Niki Reiser fast. Heute ist seine Melodie für «Pünktchen und Anton» mehr als 20 Jahre alt und lebt noch immer. Mehr als 300'000 Klicks auf Spotify. Frische Youtube-Kommentare wie diese: «Ein Teil meiner Kindheit», «So unbeschwert», «Irgendwo bei meinen Eltern liegt noch die Kassette».
«Ta da ta da tadaaa.» Immer wieder Niki Reiser ahmt mit seiner Kopfstimme Schnipsel aus der Filmmusik-Historie nach, als er in seinem Studio erklärt, wie er Melodien findet, die einen ewig mit Filmen verbinden.
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Die App «Shazam»
«Für Blockbuster wäre ich viel zu langsam», sagt der 61-Jährige, der auch als Jazz-Flötist auftrat und fast immer in Basel lebte. Wenn ein Komponist in Hollywood drei Wochen lang keine Ideen habe, werde er ersetzt. Reiser hingegen pröbelt exzessiv, hat Phasen, in denen ihm nichts einfällt, Wochen der kreativen Panik.
Bis zu einem halben Jahr arbeitet er an der Musik für einen Film, entwirft eine Melodie, verliebt sich in sie, zeigt sie dem Regisseur, streitet mit ihm, verwirft sie wieder. Wenn er eine Komödie vertont, ist Niki Reiser meist fröhlich. Bei einem Drama ist das anders. «Ich muss mich immer wieder in die Probleme der Menschen hineinfühlen», sagt er. Ins Studio gehen – das bedeutet dann auch zurückgehen in ein Gefühl des Elends und der inneren Zerrissenheit.
Denn um die passende Musik zu komponieren, entwickelt Reiser Mitgefühl. Für «Das fliegende Klassenzimmer» versuchte er, die psychischen Vorgänge von Jonathan zu verstehen, dem Waisenkind, das im Leipziger Internat ankommt und niemanden kennt. Entsprechend melancholisch zupft die Gitarre, das Klavier hebt leise ab. «De dö de dö.»
Es ist ein Film, der die Kinder ernst nimmt, auch musikalisch. «Nur weil es eine Kindergeschichte ist, mache ich keine billige Synthesizer-Musik», sagt Reiser. Wenn von seinen Klängen bei den Zuschauern etwas hängen bleibe, sei er glücklich. Das zeigt sich etwa im Verlangen, während des Films die App Shazam zu öffnen, um das jeweilige Lied zu erkennen und es sich später wieder anzuhören. Filmmusik als Souvenir.
Bazar der Emotionen
Es gibt im Netz riesige Datenbanken, die für jeden Fernsehbeitrag und jedes Youtube-Video die passende Stimmung herausspucken. Es soll sakral klingen? Niedlich? Oder dramatisch? Kein Problem auf dem Bazar der Emotionen.
«Doch», sagt Niki Reiser. Ein Akkord, der schon 1000-mal gebraucht wurde, verliere seine Wirkung. Bei einer gefährlichen Szene könne die Filmmusik nicht immer schreien. «Wuaaaaaaaa», brüllt Reiser. Es sei wie bei schlechten Schauspielern, die übertrieben weinen: das Mitgefühl geht verloren. Und so müsse er sich als Komponist immer wieder neu überlegen, wie er diese Stimmung des Verschreckt-Seins musikalisch umsetzen kann – ohne jegliche Klischees. Dafür experimentiert er mit neuen Stilen: Orchester, afrikanische Musik, Rap. «Um Muster zu sprengen», sagt Reiser. Die Gefühle würden sich immer an einem ganz anderen Ort verstecken, als er zuerst denke. Diesen zu finden, ist seine Aufgabe – eine oftmals sehr einsame: Niki Reiser und das Studio.
Einer, der immer wieder für seine epische Filmmusik kritisiert wird, ist Hans Zimmer. Niki Reiser hat mit ihm schon auf Facebook gechattet – und verteidigt ihn. Klar habe Zimmer Musik für Hollywoodfilme gemacht, die von Anfang bis Schluss «tätscht» und deshalb ihre Wirkung verlieren kann. Der deutsche Komponist habe aber seinen eigenen Stil erfunden. Bei «Inception» dekonstruiere er einen Edith-Piaf-Song wunderbar. Sein Thema bei «Fluch der Karibik» sei Volksgut geworden, dieses «Du dududu du du.»
Morricones Ratschlag
Niki Reiser hat in Boston Filmmusik studiert. In einem Kurs bei Ennio Morricone, der die Musik für Klassiker wie «Spiel mir das Lied vom Tod» schrieb, lernte er etwas, das ihn noch heute prägt. Als Übung musste er damals einen Dialog vertonen, machte immer eine Pause, wenn die Figuren sprachen. «Wieso?», fragte Morricone. «Du musst dich nicht anpassen. Deine Idee darf die Szene durchdringen.»
Morricone und Nino Rota, der viele Filme von Federico Fellini vertonte, seien für ihn Vorbilder, sagt Reiser. Sie, die mit drei Tönen ganz grosse Geschichten erzählen und dennoch im Schatten der Schauspieler und Regisseure stehen. «Ich empfinde nicht zu wenig Wertschätzung», sagt Niki Reiser. Kameramänner und Cutterinnen seien noch unbekannter. Und im Vergleich zu früher sei die Filmmusik wichtiger geworden. Filmvorführungen mit Livemusik sind derzeit sehr beliebt.
Etwa 20 Komponisten könnten in der Schweiz von der Filmmusik leben, wobei viele auch noch parallel für Werbungen arbeiten. Reiser macht das nicht. Dort müsste er Trends hinterherhecheln, etwas «im Stil von Hans Zimmer oder Amélie» produzieren. Auch Filme hat er schon abgelehnt. «Das Drehbuch muss in mir etwas auslösen», sagt Reiser. Bei «Jenseits der Stille» habe er geweint, als er das Drehbuch las – und gewann dann den Deutschen Filmpreis für die beste Filmmusik.
Elektro lernen
Die richtige Melodie finden sei das, was er gut könne, sagt Niki Reiser. Doch gerade sind eher Geräusche und Samples en vogue – und experimentelle Musik. «Auch in Blockbustern ist heute intellektuelle Musik möglich», sagt Reiser. Bei «Joker» sei die Filmmusik etwa alles andere als pompös. Hildur Guðnadóttir, eine Isländerin, habe das Gegenteil davon gemacht, was von einem Hollywoodfilm erwartet werde. Sie komponierte Musik, die sich das breite Publikum ohne Bild niemals freiwillig anhören würde. «Vielleicht werden die Zuschauer dadurch auch offener für moderne Konzertmusik», sagt Reiser.
Ganz besonders findet er auch die Musik des Science-Fiction-Films «Arrival»: Der verfremdete Klang eines Orchesters. Hörner, die wie Walfische klingen. Und verzerrte Frauenstimmen. «Wa wau wa.»
Weil der Start seines aktuellen Films wegen des Coronavirus verschoben wurde, hat Niki Reiser ein Loch bis im Herbst. Für das Studio kaufte er sich deshalb ein neues Programm, mit dem er auch elektronische Klänge produziert. «Da bin ich noch nicht so versiert», sagt Reiser. Er will sich hineinbeissen, weiss aber auch: Eine Melodie, die trägt, wird immer berühren. «Ta da ta da tadaaa.»
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