Nachruf auf Matthyas JennyDer Mann, der keinen Schlaf kannte
Er gründete das Poesietelefon und erhielt den Basler Kulturpreis. Der kürzlich verstorbene Matthyas Jenny war nicht nur Schriftsteller – er war eine publizistische Institution.
Ist er wirklich tot? Sein Leben erloschen wie eine Zigarette, von denen er unzählige geraucht hat? Es ist eine Tatsache: Matthyas Jenny – Autor, Verleger, Buchhändler, Träger des Basler Kulturpreises 2011 – ist am 10. Oktober nach schwerer Krankheit im Alter von 76 Jahren in Basel gestorben. Eine Persönlichkeit ist abgetreten, die «für die Literatur- und Lyrikszene in Basel mehr getan hat als jeder andere», wie die BaZ einst schrieb.
Durchs Gedächtnis wabern Erinnerungen wie Schwaden aus Rauch, die aus einem Aschenbecher aufsteigen. Ende der 1970er-Jahre, ein Sommerabend in Basel, Klosterbergfest: Ein bärtiger Mann mit Wuschelkopf sitzt auf einer Festbank. Ich erkenne ihn sofort: Es ist Matthyas Jenny, der damals den Verlag Nachtmaschine betrieb.
Sein ernster, abweisender, fast grimmiger Blick verunsichert mich zuerst. Ich setze mich trotzdem zu ihm. Wir kommen ins Gespräch. Irgendetwas fasziniert mich an ihm. Das Unkonventionelle vielleicht, das er ausstrahlt. Sicher auch meine jugendliche Begeisterung darüber, dass ich da einen Schriftsteller vor mir habe, der nicht irgendwo im publizistischen Elfenbeinturm, sondern mitten unter den Leuten sitzt.
«Die Revolution findet in den Gedichten statt.»
Ein paar Jahre später höre ich seine – ich meine: zurückhaltende, weiche, fast melancholische – Stimme, nachdem ich zum Telefonhörer gegriffen habe. «Hier spricht das jennysche Poesietelefon», klingt es aus dem Apparat. Matthyas Jenny, Gründer des ersten deutschsprachigen Poesietelefons, hat täglich Gedichte wechselnder Autoren auf den Telefonbeantworter gesprochen. Ein Poesietelefon existiert heute noch.
An einem «Tag der Poesie», den Jenny ebenfalls initiiert hat, treffen wir uns irgendwann in der Basler Innenstadt wieder. Wir tauschen Flugblätter aus. Auf ihnen sind keine politischen Forderungen zu lesen, sondern Gedichte. «Die Revolution findet in den Gedichten statt», sagte Jenny einst zu seiner Idee, Lyrik nicht in elitären Zirkeln zu verbreiten, sondern den Menschen auf der Strasse näherzubringen.
Es war unmöglich, Matthyas Jenny in den vergangenen Jahrzehnten aus den Augen zu verlieren. Stets hatte er neue Ideen. Ständig wälzte er Pläne für neue Projekte. Immer war er in Bewegung, meldete sich öffentlich zu Wort.
Pausen, Ruhezeiten, Schlaf? Er schien sie nicht zu kennen. Am Tag war er ebenso aktiv wie nachts. Bald machte Jenny als Gründer des Internationalen Literaturfestivals 1997, des Internationalen Lyrikfestivals 2001 sowie als Initiator der Buchmesse «Buch Basel» 2003 in der Schweiz und über die Landesgrenzen hinaus von sich reden.
Nachdem seine Frau Ursula Wernle, Besitzerin der Bachletten-Buchhandlung, im Mai 2007 allzu jung verstorben war, übernahm er das Geschäft und stand selber hinter dem Tresen. Kam man bei ihm vorbei, suchte er in der kleinen Küche hinter dem Verkaufslokal zwischen Türmen von Büchern und Verlagsprospekten eine saubere Tasse und bot Kaffee an. Manchmal war er eher wortkarg, in sich gekehrt. Medien nannten ihn einen «traurigen Rebellen». Tatsächlich sind viele seiner Erzählungen dunkel grundiert. Oft konnte man mit ihm aber auch lachen. Bei einem privaten Nachtessen zog er plötzlich Karten hervor und führte Taschenspielertricks vor. Da wurde Matthyas Jenny zum verschmitzten kleinen Buben.
Hinter seiner sanften Stimme verbarg sich eine Persönlichkeit, die auch laut werden konnte. Der Anstoss, in Basel ein Literaturhaus zu gründen, stammte von ihm. Das literarische Establishment verweigerte sich seiner Idee zunächst. Jenny wetterte gegen die «mediokren Wichtigtuer». Er rief 2006 kurz entschlossen sein eigenes «Kleines Literaturhaus» im Untergeschoss der Bachletten-Buchhandlung ins Leben. Ironisch nannte er es eine «subventionsfreie Zone».
Äusserlich wandelte sich Matthyas Jenny mit den Jahren vom bärtigen Unangepassten, als der er sich einst am Klosterberg noch präsentiert hatte, zum bürgerlich gekleideten Mann, der einen Siegelring am kleinen Finger trug. Innerlich verwandelt hat er sich nie. Er blieb sich selber treu – ein unorthodoxer Idealist, voller Initiative, freundlich, aber auch kompromisslos, wenn es nötig war. Manchmal blitzte Selbstironie auf. Sagte man: «Oh, einen schönen Anzug trägst du heute», antwortete er: «Siehst du nicht, wie fadenscheinig mein Kittel ist?»
Ein ruheloses Leben ist zu Ende gegangen. Seine Reisen führten Matthyas Jenny unter anderem nach Spanien, Amerika, Mexiko, nach Afghanistan, Indien, Malaysia und Thailand. Wo mag seine letzte Reise hingehen? Vielleicht schwebt seine Seele über Korsika, wo auch Ursula Wernle ihre letzte Ruhestätte gefunden hat.
Aber ist Matthyas Jenny überhaupt tot? Tot ist nur, wer vergessen wird. Als Mensch, Autor und Promotor von Literatur bleibt Matthyas Jenny unvergessen.
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