Legendäre Zürcher DiscosDer leibhaftige Techno-Tempel
Das Rohstofflager residierte zwischen 1997 und 2010 in verschiedenen architektonisch unterkühlten Industriehallen – und doch war es lange ein Ort der fiebrigen Ekstase.
Bestimmt steht in jedem einigermassen brauchbaren Journalismushandbuch, dass man einen Artikel niemals (NIEMALS!) mit einem ausufernden Name-Dropping beginnen soll:
Pascal Feos, Miss Kittin, Jumpin Jack, Juan Atkins, Monika Kruse, Aphex Twin, The Advent, Robert Hood, Ellen Allien, Richie Hawtin, Jeff Mills, DJ Hell, Armand van Helden, Thomas Schumacher, Green Velvet, Adam Beyer, Tobi Neumann, Blake Baxter, Claude Young, Chris Liebing, Surgeon, Cari Lekebusch, The Hacker, Sven Väth, Der Dritte Raum, Marco Carola, Luke Slater, Laurent Garnier, Stacey Pullen, Cristian Vogel, Technasia, Green Velvet, Blake Baxter, Derrick May, Ian Pooley, Westbam, Rolando, Jesco Schuck, Ricardo Villalobos, Anthony Rother, Rush, Paul Kalkbrenner, Hardy Hard, Alexander Kowalski, Mirko Loko, Josh Wink, Luciano, Trisha, Ben Sims, Joseph Capriati, Miss Djax.
Jetzt ist es trotzdem passiert. Denn das sind nicht irgendwelche Namen. Das ist das Who’s who des Techno, wie es sich in den späten Neunziger- und frühen Nullerjahren präsentiert hat (und wir haben die Liste im Fall mit angezogener Handbremse erstellt, sie ist bei weitem nicht vollständig).
All diese Frauen und Männer haben im Rohstofflager gemixt und gespielt. Oder etwas pathetischer, immerhin reden wir von einem Club, den Raver aus ganz Europa abgefeiert haben: Als Hohepriesterinnen und -priester der elektronischen Avantgarde haben sie in diesem Tempel Messen zelebriert, Massen bewegt, das tanzende Volk in fiebrige Entzückung geführt. Halleluja und Amen.
Reduziert aufs Maximum
Aber alles von Anfang an. Und damit zu einem unlängst verstorbenen Visionär namens Walter Hügli, der 1997 das ausgediente Rohstofflager der Seifen- und Waschpulver-Fabrik Steinfels an der Josefstrasse mietet, um ungekünstelte Kulturevents durchzuführen, die zur Industrie-Atmosphäre passen. Das vernimmt auch Arnold Meyer, ein Mann mit tausend Augen und Ohren, wenn es um das städtische Nightlife geht. Der frühere Musikjournalist, den die Szene unter anderem wegen seiner «Energy»-Party im Hallenstadion als «Technopapst» adelt, schlägt Hügli vor, das Rohstofflager als Venue im Sinn und Geist des Warehouse in Chicago oder des The End in London zu führen. Hügli ist sofort angefixt. Also erarbeitet Meyer mit Veranstalterkumpel Martin Frigg, den er von den «Futurescope»-Events im Limmathaus kennt, das Konzept für einen Underground-Club.
Gemacht wird nur, was (unter anderem von Gesetzes wegen) wirklich nötig ist: Lüftung, Notausgänge, Toiletten. Um Kosten zu sparen, werden Lichteffekte und Soundanlage gemietet, Gipser- und Malerarbeiten erledigt das Team selbst, alles frei nach dem Motto «Reduziert aufs Maximum», denn allen ist klar: Der Star, das ist der kathedralenhohe Raum, zu dem auch eine Galerie mit Bar und eine Treppe gehören, die zum Dancefloor runterführt.
Im März 1997 gehts los – mit Fehlzündungen, um es motorentechnisch zu sagen. «Die Idee, auf House zu setzen, war falsch», sagt Frigg, als wir in der von ihm geführten Kantine 38 in der Binz zusammensitzen. «Dieser Sound passte in den Chic des Kaufleuten, aber wir brauchten etwas Roheres, Wuchtigeres.» Meyer, mit am Tisch, ist der Mann für die Bookings. Weil das Internet noch nicht die bequeme Auskunftsstelle ist, wie wir sie heute kennen, informiert er sich durch Magazine wie «Groove», «Mixmag» oder «Raveline» (heute: «Faze») – und engagiert nach einer solchen Lektüre das Göttinger Technoprojekt Der Dritte Raum. Das sei der Schlüsselmoment gewesen, sagt Meyer.
«Seien wir ehrlich: Fanatiker wie wir erinnern uns an diesem Moment besser als an unseren ersten Kuss.»
Jetzt springt der Funke, der Motor startet, bald läuft das Rohstofflager von 23 bis 6 Uhr auf Hochtouren. Selbst wenn statt ausländischer DJ-Grössen lokale Heldinnen und Helden wie Mikky B, Gangsta, Styro 2000 oder Bang Goes am Mischpult stehen, werden an der Kasse die 25 Franken hingelegt, als wärs Monopoly-Geld; immer öfter stösst das Fassungsvermögen von 600 Personen an die Grenzen.
Marion Meier, die von Anfang an zum Team gehört und später selbst Artist-Bookings macht, sagt, man habe das für den damaligen Zeitgeist optimale Setting gefunden. «Wenn sich Big-Room-Techno in einer solchen räumlichen Dimension ausbreiten darf, gepaart mit einem cool-kühlen Ambiente, passiert bei den Tanzenden etwas Magisches, Unfassbares.»
Eine italienische Journalistin versucht es 2016 in einer hymnischen Retrospektive dennoch in Worte zu fassen. Sie nennt den Augenblick, als sie 1999 im Rohstofflager das erste Mal leibhaftig mit Techno in Berührung kommt, einen der bedeutungsvollsten in ihrem Leben: «Seien wir ehrlich: Fanatiker wie wir erinnern uns an diesem Moment besser als an unseren ersten Kuss.»
Bekanntlich gibt es seit Menschengedenken stets kleine «Helfer», die den Weg in diesen glückseligen Rausch beschleunigen. Zu jener Zeit gilt die Gleichung «Ekstase durch Ecstasy»; die ansteigend euphorisierende Wirkung der synthetischen Partydroge passt geradezu ideal zu den monumental strukturierten Techno-Soireen, die unter dem Label «Trax» durchgeführt werden.
Der Underground-Club hat aber noch ein zweites Standbein, es sind die Stile Jungle und Drum’n’Bass, die am Freitag auf dem Programm stehen. Auf dem Dancefloor gehts dann hektischer zu, dafür bevorzugt diese Soundgemeinde – wahrscheinlich geht es um die innere Balance – mit Haschisch und Marihuana Stimulanzen mit tendenziell entschleunigender Wirkung.
Im Jahr 2000 läuft der Zwischennutzungsvertrag im Kreis 5 aus. Der Tempel wird abgebrochen – und in Oerlikon neu errichtet. Wieder hat Walter Hügli einen alten Industriebau ausfindig gemacht, er gehörte der Batteriefabrik Accu und steht unweit des Bahnhofs an der Binzmühlestrasse 86.
Clubbing trifft auf Design
An der Underground-Philosophie habe man bewusst festgehalten, sagt Arnold Meyer – obwohl die Räumlichkeiten nun insgesamt 1500 Leuten Platz bieten. In Zahlen übersetzt: Der Eintritt kostet noch immer weniger als 30 Franken, die Getränkepreise bleiben anständig, ein internationaler DJ erhält eine Gage von rund 3000 Franken.
Gleichwohl wird im Rohstofflager 2 vieles anders. Forciert durch Ästhet Walter Hügli, trifft jetzt Clubbing auf Design. Im langen Foyer, das vom Eingang zum Mainfloor wie auch zur «Stratos»-Lounge geleitet, schweben UFO-artige Leuchtkörper, man chillt auf stylischen Sesseln und unter Palmen. Vielleicht ist es diese sinnliche Wärme, die dem Rohstofflager nun den Kosenamen «Rösti» beschert.
Das genannte «Stratos» ist faktisch ein zweiter, kleinerer Dancefloor. Es ist aber auch eine Art Musik- und Kunstinstallation mit wechselndem, pastellfarbenen Licht, kuratiert von Philippe Meier alias DJ Metastar, der mit den «Substrat»-Abenden bereits im ersten Rohstofflager eine nerdige Nische betreut hat. Die Electronica, die im «Stratos» aufgelegt oder live gespielt wird, kitzelt in der Regel eher das Hirn, als dass sie in die Gedärme haut. Doch auch wenn längst nicht alle das testlaborartige Konzept des Raums kapieren (der quasi ein Kleinformatvorläufer des späteren Clubs Tonimolkerei ist), wird er zwecks Entspannung nach dem Techno- oder Drum-’n’-Bass-Sturm durchaus geschätzt.
Neu ist auch, dass das Rohstofflager 2 zur Konzertbühne mutiert. Vor allem der Gig des eklektischen Londoner Projekts Leftfield und die Show von Drum-’n’-Bass-Gott Roni Size und seiner Reprazent-Combo erzeugen ein Erinnerungsecho, das bis heute nachhallt. Ansonsten ist alles wie gehabt: Die Crème de la Crème der Technoszene mixt die Crowd in fiebrige Ekstase, wobei dazu öfter nice gelächelt als cool gestarrt wird … Was, so vermuten die Meinungsmacher, daran liegt, dass jetzt auch die helvetische Provinz da abgeht.
Das Oerlikon-Abenteuer dauert wiederum drei Jahre, dann organisiert Walter Hügli eine neue Location auf dem Toni-Areal im Kreis 5. Und diese letzte und längste Etappe des Rohstofflagers – sie dauert von 2003 bis 2010 – wird dem Gütesiegel «Legendäre Zürcher Discos» nicht mehr gerecht.
Trotz prominenten DJ-Sets verliert der Club seinen angestammten Groove, die räumliche Industrie wirkt bloss noch wie eine künstliche Fassade, vom Licht bis zum Sound wird alles professionalisiert. Die Location wird (zwangsläufig, die Betriebskosten sind hoch) kommerzieller positioniert und regelmässig für Konzerte von Fremdveranstaltern vermietet – notabene von zwar tollen, jedoch «artfremden» Bands wie Kasabian, Juliette & The Licks oder Black Rebel Motorcycle Club.
Erschwerend ist, dass mit der Dachkantine ein Club das Underground-Zepter übernimmt, der auf dem gleichen Areal zu Hause ist. Aber das ist dann ein anderes Kapitel für einen späteren Zeitpunkt.
Wegen einer Umstrukturierung im Zürich-Bund erscheinen die Beiträge dieser Disco-Serie in der Zeitung neuerdings am Freitag statt am Samstag.
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