Lyon vor Herkulesaufgabe in der CLDer krasse «Utsaidöör» will Unmögliches schaffen
Olympique Lyon trifft heute Abend im Champions-League-Halbfinal auf Bayern München. Es spricht quasi nichts für einen Sieg der Franzosen – genau deshalb sind sie gefährlich.
Wenn die Franzosen Outsider sagen, was nun aus aktuellem Anlass recht oft vorkommt, klingt das etwa so: «Utsaidöör». Mit lang gezogener Schlusssilbe. Olympique Lyon, gegründet im gar nicht so weiten 1950, ist ein klassischer Outsider in der auslaufenden Champions League. Nicht so sehr, weil es dem Club an Glanz und Geld gebrechen würde. Mit einem Jahresbudget von 310 Millionen Euro gehört er nicht zu den ärmsten. Und wer sich an die Nullerjahre erinnern mag, da gewann Lyon siebenmal in Serie die nationale Meisterschaft, von 2002 bis 2008. Ein nationaler Rekord, Lyons Dekade.
Aber dass man es ausgerechnet am Ende einer sportlich desaströsen und chaotischen Saison voller Umstürze und personellen Umbesetzungen in den Halbfinal der europäischen Königsklasse schaffen würde, das hätte niemand für möglich gehalten. Die Lyonnais am wenigsten. OL wurde nur Siebter in der abgebrochenen Ligue 1, ein Abklatsch der Ambitionen, nicht einmal für die Europa League hat es gereicht. Man sah sich selbst als kolossaler «Utsaidöör», als Partycrasher.
Wieder im Halbfinal – wieder gegen die Bayern
Nun aber ist Lyon zum zweiten Mal in seiner Geschichte mit dabei im finalen Quartett, das letzte Mal ist zehn Jahre her, und ja, der Gegner war damals schon Bayern München. Keine sehr gute Erinnerung, es gab zwei Niederlagen, 0:1 in München und 0:3 daheim, drei Tore von Ivica Olic. Aber was zählen schon die Geister von gestern? Und überhaupt: Outsider, das liegt in der Natur der Sache, verlieren nichts, wenn sie verlieren, ihr Verlieren ist programmiert. Frei vom Druck spielt es sich zuweilen leichter, vielleicht auch besser.
Auf dem Weg unter die letzten vier warf Lyon zwei Favoriten raus. Zunächst Juventus Turin mit Cristiano Ronaldo, das sich einiges vorgenommen hatte in diesem Jahr, und nun am Wochenende auch noch Manchester City von Trainer Pep Guardiola, der den reichen Geldgebern vom Golf endlich mal die wichtigste Trophäe bescheren sollte, die so rumsteht in der Requisitenkammer.
28 Prozent Ballbesitz reichten für drei Tore.
Natürlich gelang Lyon das Wunder ganz im Stil des Outsiders: Es stand tief, meist mit fünf hintendrin, und wartete auf seine Chancen, die naturgemäss mit wachsender Nervosität des Gegners zunehmen – und konterte dann mit einer Frische, die mitten im August nur eine Mannschaft in den Beinen haben kann, die nicht eine ganze Saison durchspielen musste.
Gegen City wurde für OL ein Ballbesitz von 28 Prozent gemessen, und das ist selbst für einen Underdog eine höchst dürftige Quote, auf diesem Niveau des Wettbewerbs sowieso. Sie reichte aus für drei Tore. Das muss man nicht schön finden, aber es war effizient. «Comme des bons», titelte «L’Équipe» nach dem Spiel. «Als wärt ihr wirklich gut.» Guardiola lobte danach Rudi Garcia, den Trainer des Gegners, in allen Tönen. In Peps Lob schwang mit: Wer mich schlägt, muss ja gut sein.
In Lyon müssen sie sich erst noch daran gewöhnen. Garcia ist nämlich alles andere als beliebt, er konnte bisher nichts recht machen, und das liegt weniger an seiner Person als an einem Eintrag in seiner Vita. Der Franzose mit spanischen Wurzeln, den die Eltern Rudi taufen liessen, weil sie die deutsche Radlegende Rudi Altig so toll fanden, hatte sich einst als Trainer in Lille einen Namen gemacht, coachte danach die AS Rom, dann Olympique Marseille.
OL vs. OM, keine Rivalität in Frankreich ist virulenter, sie wird das ganze Jahr über mit ständigen Sticheleien geführt.
Und dies, diese letzte Station an der Mündung der Rhone, hätte ihn aus Sicht der Lyonnais ein paar Hundert Kilometer flussaufwärts für immer für den Job disqualifizieren müssen. OL vs. OM, keine Rivalität in Frankreich ist virulenter, sie wird das ganze Jahr über mit ständigen Sticheleien geführt. Und so konnte das eigentlich gar nicht gut gehen, als Garcia im vergangenen Herbst die Mannschaft vom Brasilianer Sylvinho übernahm. Als dann auch noch die Siege ausblieben, schien das Verhältnis unwiederbringbar kompromittiert.
Doch Garcia schaffte es ganz offensichtlich, das Team in der langen Pause zusammenzuschweissen, ihm eine neue Spielidee zu vermitteln, mit jedem Einzelnen soll er stundenlang gesprochen haben. Die Mannschaft war davor ein anarchischer Haufen gewesen, ohne Konstanz, ohne Zukunft. Alle grossen Namen, so war weitum klar, würden sich im Sommer einen neuen Arbeitgeber suchen. Und nun?
Aouar, der «Petit Prince» von Lyon
Da ist einmal Houssem Aouar, die Nummer 8, ein wunderbar ballsicherer offensiver Mittelfeldspieler, in Lyon nennen sie ihn «Petit Prince», er ist auch aus finanziellen Gründen die grosse Hoffnung des Vereins: 22 Jahre alt, Franzose mit algerischen Wurzeln. Geboren in Lyon, aufgewachsen in Lyon, geformt von Olympique Lyon. Aouar gilt als bestes Produkt der Nachwuchsarbeit des Vereins seit Karim Benzema (Real Madrid), Alexandre Lacazette (FC Arsenal), Nabil Fekir (Betis Sevilla) und Correntin Tolisso (FC Bayern). Benzema machte sich schon für Aouar stark, da war der noch ein Kind.
Manchester City schaut ihn sich seit zwei Jahren an. Die französische Presse fand nach dem Spiel, Aouar habe da sein Anstellungsgespräch absolviert, mit vielen Argumenten in eigener Sache. An guten Tagen ist Aouar das Hirn im Zentrum von Lyon, Umschalter und Ballverteiler. Dummerweise hat er oft schlechte Tage, da verschwindet er ganz. «Ich denke zu viel nach», sagte er neulich. «Dabei sollte man das Gehirn manchmal auf Off stellen und einfach spielen, voll gehen.»
Auch im Sturm von Lyon steht einer, der viel nachdenkt und sein Publikum zuweilen verwirrt mit seinen Ansichten. Memphis Depay (26), Captain und Stürmer mit einem Bad-Boy-Image, Rapper in der Freizeit, tätowiert von Kopf bis Fuss, ist der Topverdiener im Verein: 420’000 Euro brutto im Monat, für Lyon ist das eine ganze Menge.
«Ich bin ein Sohn Gottes.»
Als der niederländische Nationalspieler vor drei Jahren von Manchester United nach Lyon wechselte, liess er ein Schloss für sich suchen, er mag es gern gross. Kaum war er da, gab er der «Équipe» ein Interview, aus dem seither oft zitiert wird: «Ich bin ein Sohn Gottes», sagte er. «Natürlich höre ich dem Trainer zu, meinem Agenten, meinen Freunden, doch was wirklich zählt, ist, was Gott von mir erwartet. Mit Kritik kann ich leben, sie berührt mich nie.»
Depay hatte eine schwierige Kindheit, zwischen Schatten und Licht, er redet oft darüber. Der Vater verliess die Familie, da war der Junge 4. Auch deshalb will er, dass auf seinem Trikot nur Memphis steht, den Nachnamen hält er für einen Nachlass des Vaters. Ungerechtigkeiten bringen die Schatten zurück.
Im vergangenen Dezember, als Lyon sich nach einem 2:2 im Heimspiel gegen Leipzig für den Achtelfinal der Champions League qualifiziert hatte, drohten Ultras, das Spielfeld zu stürmen. Sie waren trotz allem enttäuscht, einer hielt eine Banderole mit rassistischer Karikatur gegen Lyons brasilianischen Abwehrchef in den Händen, darauf stand: «Marcelo, hau ab!» Als Depay das sah, rannte er über den ganzen Platz, entriss dem Fan im wilden Pulk das Spruchband und war nahe dran, sich mit ihm zu prügeln. Eine heikle Szene, sie hätte leicht ausarten können.
Nun erinnerte man sich auch daran, dass Depay Essen an Bedürftige verteilt, draussen an der Ringstrasse. Er sorgte auch dafür, dass OL die Kampagne «Black Lives Matter» ernst nahm. Nach aussen ein Bad Boy mit Hang zur Süffisanz. Drinnen aber ist offenbar alles etwas komplexer.
Lyon will Depay unbedingt behalten, doch auch ihn zieht es weg. Jedenfalls war das bis vor dem Lissaboner Sommer so, einem Sommer für Outsider.
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