Der ewige Stress mit den Noten
Auch mit dem neuen Lehrplan 21 werden die Leistungen der Schülerinnen und Schüler ab der zweiten Klasse mit Noten bewertet. Dabei ist umstritten, ob sie pädagogisch Sinn machen.

Laura kann schlecht einschlafen. Seit Wochen schon. In ihrem Kopf drehen Mathe-Aufgaben, Englisch-Wörtchen und Flussnamen. Laura ist in der 4. Klasse und hat jede Woche zwei bis drei Prüfungen. Sie hat Angst vor den Prüfungen. Sie hat Angst vor den Noten. Die 9-Jährige ist total gestresst.Das Beispiel ist fiktiv, doch realistisch – und kein Einzelfall. Das sagt jedenfalls Carmen Gil, Mittelstufen-Fachlehrerin für Englisch und Französisch in Zürich. «Bereits in der Primarschule sind sehr viele Kinder Burnout gefährdet», sagt sie. Für die Lehrerin ist offensichtlich, woher das kommt: «Die meisten Lehrer machen viele Prüfungen, weil sie viele Noten geben müssen. Das setzt die Schülerinnen und Schüler unnötig unter Druck.» Carmen Gil betont, dass jedes Kind lernen möchte. «Doch wenn ein Kind überfordert ist mit vielen Prüfungen und Noten, dann will es nicht mehr lernen. Warum muss man alles bewerten, was das Kind macht?», fragt sie rhetorisch. Selbst in einem Fach wie Religion und Kultur, das nur eine Lektion pro Woche unterrichtet wird, müssten Noten gesetzt werden.
Eine alte Diskussion
Immer wieder werden Stimmen laut, welche die Leistungsbeurteilung durch Noten kritisieren. Am meisten beanstandet wird: Noten setzen Kinder unter Druck. Noten gaukeln Objektivität vor, dabei sind sie subjektiv und vom jeweiligen Klassenniveau abhängig. Noten verbessern den Lernerfolg nicht. Es gab zwar immer wieder Experimente mit anderen Beurteilungsformen. Doch im Kanton Zürich werden die Leistungen der Schülerinnen und Schüler nach wie vor ab der 2. Klasse benotet.
Daran ändert auch die Einführung des Lehrplans 21 ab nächstem Schuljahr nichts. Dabei hätte der Wechsel zum kompetenzorientierten Unterricht die Diskussion neu entfachen können. Denn Kompetenzen sind schwieriger abzufragen als Wissen. Und der nationale Lehrplan 21 überlässt den Entscheid «Noten ja oder nein» den Kantonen.
Gesellschaft will Noten
Im Kanton Zürich hält man an den Noten in Form von Ziffern fest. «Noten sind in der Gesellschaft tief verankert», sagt dazu die Leiterin des Volksschulamtes Zürich, Marion Völger. «Das ist die Sprache, die alle verstehen.» Noten seien vor allem, wenn es um Übertritte und Anschlussfragen geht, ein wichtiges Kommunikationsmittel. Sie würden die Gesamtleistungen des Schulkindes in einem Fach verdichtet kommunizieren und den Vergleich mit anderen Kindern zulassen.
"Noten sind in der Gesellschaft tief verankert. Das ist die Sprache, die alle verstehen."
Für Prof. Dr. Christoph Schmid von der Pädagogischen Hochschule Zürich ist die Tatsache, dass es die Noten in einem Kanton mit demokratischen Mitbestimmungsrechten immer noch gibt, ein Hinweis darauf, dass sie von der Gesellschaft gewünscht sind.
Studien zeigen Subjektivität
Werden die Noten also für die Eltern oder die Gesellschaft gemacht, nicht aber für die Kinder, wie dies Primarlehrerin Carmen Gil kritisiert? Die Frage, ob Noten pädagogisch sinnvoll sind, könne man nicht generell beantworten, sagt Schmid. Es gebe Studien mit unterschiedlichen Befunden und manches sei nicht hinreichend untersucht worden. Das mag stimmen – doch einzelne Kritikpunkte wie die Frage, wie objektiv Noten sind oder ob sie zum Lernerfolg eines Kindes beitragen, hat die Forschung durchaus beantwortet (siehe auch Nachgefragt mit Remo Largo).
Bei der Korrektur von Aufsätzen, Diktaten, aber auch von Mathematikaufgaben vergaben Lehrerinnen und Lehrer in Studien für die gleichen Arbeiten erstaunlich unterschiedliche Noten. Diese Tatsache ist für Pädagogikprofessor Schmid aber kein Grund, sich gegen Noten auszusprechen. «Noten sind keine exakte Messung wie in den Naturwissenschaften, sondern eher eine grobe Einschätzung.» Er wolle zwar kein Plädoyer für Noten abgeben. «Aber ich sehe keine bessere Lösung, um erreichte Lernziele zu bescheinigen.»
Schmid betont, dass eine Lehrperson die Leistung der Kinder bewerten kann, ohne sie unter Druck zu setzen. «Es steht nirgends, dass Lehrpersonen unzählige Prüfungen durchführen und alle mit Noten bewerteten müssen.» Tatsächlich heisst es in einer Broschüre des Zürcher Volksschulamtes: «Noten werden nur im Zusammenhang mit dem Zeugnis verlangt. Lehrpersonen sind nicht verpflichtet, ausserhalb des Zeugnisses Noten zu erteilen.»
Smileys statt Zahlen
Genau dieser Passus kommt Primarlehrerin Carmen Gil entgegen: Ihre Schülerinnen und Schüler erhalten nur zwei Mal pro Jahr Noten, nämlich im Zeugnis. Dazwischen gibt es zwar Tests, aber keine Noten. Geht es im Englischtest ums Benennen von Gebäuden in einer Stadt, schreibt Gil einfach aufs Blatt, wie viele der möglichen 20 Punkte ein Kind erreicht hat. Zusätzlich überlegt sie sich im Voraus, was das Lernziel der Klasse ist. Hat das Kind das Lernziel übertroffen, erhält es drei Smileys, hat es das Lernziel erreicht, erhält es zwei Smileys und liegt es noch darunter, bekommt es einen Smiley.
"In der Primarschule ist es zu früh für Noten."
«Das ist ein feiner, aber für das Kind wichtiger Unterschied», erklärt Gil. «Die Information ans Kind ist: Du kennst noch zu wenig englische Wörter für Gebäude. Aber nicht: deine Leistung ist ungenügend.» Die Zeugnisnote sei dann eine Gesamtbeurteilung, die sich nicht einfach aus dem Schnitt der Prüfungen errechnen lasse. «Ohne Noten bleibt die Beurteilung mehr in der Schule. Die Eltern können den Schnitt nicht ausrechnen und machen weniger Druck.» Carmen Gil ist die einzige in ihrem Schulhaus, welche dies so handhabt. Sie hat damit gute Erfahrungen gemacht – auch mit den Eltern. Die Lehrerin findet Noten nicht grundsätzlich schlecht. «Doch in der Primarschule ist es zu früh dafür.»
Basel: Noten ab der 5. Klasse
Das sehen offenbar andere auch so: In Finnland sind Noten beispielsweise erst ab der siebten Klasse Pflicht. Und im Kanton Basel-Stadt werden erst ab der 5. Klasse Noten gesetzt. In den vier Jahren davor erhalten die Schülerinnen und Schüler am Ende des Schuljahres ein Zeugnis, in dem ihre Leistungen mit Worten beurteilt werden. Es gibt vier sogenannte Prädikate: hohe Anforderungen erreicht, mittlere Anforderungen erreicht, Grundanforderungen erreicht und Grundanforderungen nicht erreicht. «Aus pädagogischer Sicht macht es einen grossen Unterschied, ob im Zeugnis eine 3 steht, oder », ist Flavio Tiburzi von der Volksschulleitung Basel-Stadt überzeugt. «Eine Zahl ist eine härtere Währung als ein Wort.» Zudem würden Zahlen eine Genauigkeit vorgaukeln, die nicht zutreffe.
Individueller als Noten oder Prädikate wären Wortzeugnisse, in denen die Leistungen des Kindes umschrieben würden. Bei dieser Form wäre es möglich, unabhängig von dem, was man von einem Kind in einem bestimmten Alter erwartet, den individuellen Fortschritt zu würdigen. Doch das, findet Pädagogikprofessor Schmid, wäre eine sehr grosse Herausforderung für die Lehrpersonen – und habe sich nicht durchgesetzt. Mit Zeugnissen sollte leicht verständlich der Leistungsstand abgebildet werden, betont er. «Für die individuelle Förderung gibt es andere Mittel wie gemeinsame Gespräche mit den Kindern und ihren Eltern.»
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