Interview mit dem Sion-Präsident«Dem Wallis fehlt es manchmal zu sehr an Visionen»
Christian Constantin ist der dominante Mann beim FC Sion. Im Interview spricht er über seinen Antrieb, seinen Führungsstil und die Nachhaltigkeit seines Clubs.

Er ist wohl eine der polarisierendsten Persönlichkeiten im Schweizer Fussball: Sion-Präsident Christian Constantin. Der 64-Jährige hat dieses Amt seit 2003 inne und in dieser Zeit schon einige Personen vor den Kopf gestossen. Nachdem der Club letzte Saison in die Barrage gemusst hat, will man im Wallis nun möglichst schnell nichts mehr mit dem Abstieg zu tun haben. Am Sonntag trifft Constantins FC Sion in der 2. Runde auf den FC Basel.
Christian Constantin, Ihr Club stand in der letzten Saison nahe am Abgrund. Was machte das mit Ihnen persönlich?
Eigentlich habe ich immer Angst. Ich war Erster und Neunter, ich habe alle Plätze durchgemacht in der Super League. Entweder bist du vorne, dann hast du Angst, etwas zu verlieren. Oder du bist hinten, dann hast du noch mehr Angst.
Können Sie dann schlafen?
Sehr wenig. Ich schlafe in der Regel von 22.30 bis 2.30 Uhr, vier Stunden also. Durch meine Erziehung weiss ich, dass man früh aufstehen muss, will man etwas erreichen. Wenn du am Morgen nicht arbeitest, ist dein Tag verloren. Und wenn du etwas auf morgen verschiebst, ist der morgige Tag auch schon verloren.
Was macht Constantin, wenn er so früh aufwacht?
Wenn ich erwache, denke ich sogleich nach, und wenn du nachdenkst, dann schläfst du nicht mehr. Ich mache mir Notizen, ich schreibe Sachen auf. Eigentlich beginne ich mit der Arbeit. Wir haben während Covid 20 Millionen Franken verloren, trotzdem habe ich alle Saläre gezahlt. Dass wir die Clubstruktur halten konnten, grenzt an ein Wunder. Da schläft man nicht immer.
Sie haben gesagt, Trainer Fabio Grosso verstehe nichts von Fussball, nachdem Sie ihn vom Hof gejagt haben. Versteht der, der ihn engagiert hat, mehr vom Fussball?
Der erste Schuldige bin ich. Ich kann die Verantwortung tatsächlich nicht abtreten. Dass er Hoarau draussen liess, ging gar nicht. Man kann aus Hoarau keine Nummer neun machen, denn die damit verbundenen Aufgaben wird er nie erledigen.
Sie haben ein Faible für grosse Namen. Woher rührt das?
Der Mensch braucht neue Horizonte, er braucht Leidenschaft, er braucht Projekte, er muss sich dem Vergleich stellen, um zu existieren. Und um das zu erreichen, muss man auf Entdeckungsreisen gehen.
Ist das Wallis zu eng für Sie? Am kleinen Rad zu drehen genügt Ihnen nicht, Sie wollen lieber auch ein wenig am grossen, internationalen Rad drehen.
Ich liebe das Wallis, aber ich bin auch einer, der über den Rand hinausschaut. Ich wollte nie von hier weggehen, aber zumindest den Kopf heben. Mein Problem ist, dass es überhaupt sehr schwer für mich ist, im Wallis Leute zu finden, die mir eine Hilfe sind. In diesem Sommer hatte ich zwei Möglichkeiten, und ich habe sie genutzt. Mit Mario Cosentino (Red.: neu Generaldirektor, er war Generaldirektor von Inter Mailand) und Gelson Fernandes (neu Vizepräsident). Beide tragen das Wallis im Herzen und haben internationale Erfahrung. Das ist ein grosses Glück.

Das Bild, grösser zu sein, als man eigentlich ist, gehört zu Ihren Leitmotiven. Wollen Sie damit auch eine Message ans Wallis richten?
Dem Wallis fehlt es manchmal zu sehr an Visionen. Zum Beispiel die Olympischen Spiele, sie waren eine Chance. Und ich will Ihnen sagen, weshalb. Das hat nichts damit zu tun, dass der Constantin bauen wollte. Unsere Urahnen hatten immer Schwierigkeiten, ihre Kinder aufzuziehen in einer Region wie der unsrigen mit den vier Jahreszeiten. Wenn ich in Zermatt mit alten Leuten rede, erzählen sie mir, dass der Boden zwischen November und Mai nichts hergegeben habe und sie immer hätten Lösungen finden müssen, damit die Ernährung sichergestellt gewesen sei. Irgendwann haben sie begriffen, dass der Tourismus dieses Leben erleichtert und die Bildung der Kinder dank den Einnahmen verbessert werden konnte. Sie haben sich geöffnet, nicht verschlossen. Sie haben im Neuen eine Chance gesehen.
Was wollen Sie damit sagen? Was ist Ihre Botschaft?
Bei solchen Fragen muss man sehr aufpassen. Ich bin sogar der Meinung, je weniger wir bereit sind, unseren Kopf zu heben, desto gefährdeter ist unsere Kultur. Auf den anderen zu warten, damit sich die Situation für die Zukunft verbessert, funktioniert nicht.
Unabhängig von Erfolg und Misserfolg legen Sie viel Energie, Lust, Ausdauer und Geld in den FC Sion. Haben Sie eine tiefere Erklärung, weshalb Sie das in diesem Ausmass und mit dieser Leidenschaft tun?
Vielleicht kommt das aus meiner Kindheit. Wir waren zwar glücklich, aber wir waren arm. Als Kind bewegt man sich da immer etwas in der Defensive. Es gab um uns herum immer wieder Leute, die mehr hatten als wir. Bei den ersten Ferien, in denen wir das Meer gesehen haben, war ich schon 18. Das hat meine Lust, neue Horizonte zu erforschen, wohl gefördert.
Wollen Sie geliebt werden?
Ich denke nicht, dass das der Antrieb ist.
Ich frage das, weil Sie mit 13 schon Ihre Mutter verloren haben.
Wenn du die Mutter derart früh verlierst, verlierst du die Strukturen. Andererseits gewinnst du ohne Strukturen an Freiheit. Die Freiheit kann aber gefährlich werden. Ich hatte gleichaltrige Kollegen, die in den 70er-Jahren an Drogen gestorben sind. Der Fussball war meine Passion. Ich glaube, dass der Fussball zu einer Art Familie für mich wurde. Er war mir ein neues emotionales Auffangbecken, das mir eine neue Struktur verlieh, die es durch den Tod meiner Mutter so nicht mehr gab.
«Ich glaube, dass der Fussball zu einer Art Familie für mich wurde.»
Finden Sie nicht, dass es ein Problem ist, wenn der Präsident grösser ist als der Club?
Darauf gibt es keine Antwort, die Sie zufriedenstellt. Weil es tatsächlich so ist. Ich werde mich eines Tages verändern, aber wenn ich mich verändere, werde ich sterben. Das dauert also noch. Hoffentlich.
Ist Ihre Art, den Club zu führen, überhaupt nachhaltig?
So wie der Club heute aufgestellt ist, wird er in der Minute, in der ich aufhöre, nicht mehr in der obersten Liga spielen. Wenn ich loslasse, dann ist das wie ein Luftballon, der entschwindet und nur mehr schwer gesehen wird.
Sie kokettieren.
Nein, so ist es. Alle Trainingsplätze, alle Büros, die ganze Infrastruktur, selbst das Kopiergerät ist in meinem Besitz. Wer kann im Februar 1,5 Millionen Franken allein mit Sauerkraut essen einnehmen? Es gibt auf der Welt keinen anderen.
Genau das ist das Problem. Sie führen den FC Sion nicht nachhaltig. Er ist zu sehr von Ihnen abhängig geworden. Der Sportbereich ist eng mit Ihren Immobilien- und Baugeschäften verflochten und verwoben.
Das Budget des FC Sion dreht sich tatsächlich zu einem grossen Teil um meine Geschäfte. Der FC Sion ist ein Unternehmen in meinem Unternehmen. Deshalb kann ich den Club nicht einfach so aufgeben.
Und das finden Sie gesund?
Es ist im Moment jedenfalls so. Aber der FC Sion wird in Zukunft so nicht leben können, will er auf dem höchsten Niveau weiterspielen. Da muss ich Ihnen recht geben. Ich muss den Club auf eine neue Basis stellen, ich muss ihn umbauen. Mein Traum ist: Ich habe jetzt sieben bis zehn Jahre Zeit, den FC Sion autonom zu machen. Das ist eine enorme Herausforderung und Arbeit. Unser erstes Problem ist eine neue Infrastruktur. Dafür braucht es rund 40 Millionen Franken.
«Der FC Sion ist ein Unternehmen in meinem Unternehmen.»
Kürzlich haben Sie das Engagement von Gelson Fernandes bekannt gegeben. Es ist der interessanteste Transfer, den Sie in den letzten zehn Jahren getätigt haben.
Als Eintracht Frankfurt darüber nachdachte, Fernandes zum neuen Sportdirektor zu machen, sagte ich ihm: Geh zur Eintracht, du wirst dort wachsen können. Ich liess ihm Zeit. Als ich aber gespürt habe, dass er auch für uns zu einer Möglichkeit werden könnte, nutzte ich die Chance.
Die Integration von früheren Aushängeschildern ist etwas, was in einem Sportclub zentral ist. Einen Deal wie bei Fernandes hätten Sie doch bereits früher tun können.
Leute, die für diesen Job über das notwendige Profil verfügen, sind sehr dünn gesät. Gelson gehört zu den ganz wenigen im Wallis. Ich wollte das schon früher umsetzen, aber mit wem?
Mit Alain Geiger, Raphael Wicky oder Martin Schmidt.
Wicky ist aktuell noch nicht zurückzubekommen. Und einer wie Schmidt ist in der Bundesliga, da gehts um ganz andere Konditionen. Im Leben ist es Zeit für etwas, wenn die Zeit reif dafür ist. Agnelli bei Juventus Turin wollte immer ehemalige Ausnahmespieler zu Vizepräsidenten machen – Boniperti, Bettega, heute ist es Nedved. Deshalb habe ich den Posten im FC Sion für Fernandes neu geschaffen. Es ist übrigens das erste Mal in der Schweiz, dass eine Führungsperson in der Super League eine dunkle Hautfarbe hat. Das ist auch mal ein schönes Bild von Integration.
Was genau ist die Aufgabe von Gelson Fernandes?
Er hat zwei Missionen. Erstens soll er auf allen Stufen an der Leistungsqualität arbeiten, von der ersten Mannschaft bis zum Nachwuchs. Und dann werde ich ihn lehren, was es heisst, einen Club zu verwalten und wie man Verhandlungen führt und sich schlau verhält.
Er wird also auch sportliches Know-how einbringen, etwa bei Transferfragen?
Ja sicher.

Dann geht es auch darum, dass er den jungen Sportchef Barthélémy Constantin unterstützt?
Klar doch. Die beiden arbeiten bereits seit Jahren als Kollegen zusammen. Jetzt tun sie es auf einer täglichen und professionellen Basis.
Ihr Sohn stand mit Transfers in der Kritik. Hat Sie das getroffen?
Geschwätz gibt es immer. Ein Vater schützt sein Kind. Wer hilft ihm sonst? Er lernt bei mir jeden Tag etwas, was man an keiner Schule lernen kann. Ich investiere jedes Jahr fünf Millionen Franken in einen Fussballclub. Das ist schon mal dumm. Würde ich mein eigenes Kind opfern und nicht seine Leidenschaft ausleben lassen und es bei der Ausbildung nicht unterstützen, wäre ich der grösste Dummkopf der Welt. Ich verdiente es nicht, Vater zu sein.
Ein Vizepräsident wird oft ein Präsident. Bereitet Constantin seine Nachfolge vor?
Mein Horizont umfasst noch zehn Jahre, wer dann das Ruder in den Händen hält, wissen wir heute nicht. Aber wenn Sie mich fragen, ob Fernandes etwas zur Nachhaltigkeit des FC Sion beitragen kann, dann sage ich Ihnen: Ja.
Bei diesem Artikel handelt es sich um eine gekürzte Version des Originalinterviews im «Walliser Boten»
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