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«Das Gefühl, ausharren und durchhalten zu müssen, macht viele kaputt»

«Wie lang muesch no?» – «Ich muss gar nichts!», antwortet der Psychotherapeut Andi Zemp jeweils.
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Herr Zemp, Sie haben als Psychotherapeut regelmässig mit Menschen zu tun, die an Burnout erkranken. Warum arbeiten Menschen buchstäblich bis zum Umfallen?

Wenn wir unter Stress stehen, schüttet unser Körper so viel Adrenalin und Kortison aus, dass unsere Selbstwahrnehmung herabgesetzt wird. Das macht ja auch Sinn. Stressreaktionen sind gedacht für Kampf- oder Fluchtsituationen. Wenn unmittelbare Gefahr droht, muss ich handeln, da ist es nicht hilfreich, mich zu fragen, wie es mir geht. Wenn der Stress aber zum Dauerzustand wird, ist dieser Tunnelblick hinderlich. Dann produzieren Menschen nicht nur kleine Unfälle am Laufmeter, sondern sie blenden auch alle Signale des Körpers aus. Viele verausgaben sich endlos bis zum Zusammenbruch. Besorgte Nachfragen oder Warnungen von Partnern helfen da wenig. Betroffene blenden solche Stimmen aus und klammern sich an die Illusion, das Schlimmste sei bald überstanden.

Sind Menschen unterschiedlich anfällig für Burnout und Erschöpfungsdepressionen?

Wenn der Druck zu hoch ist, kommt jeder früher oder später ans Limit. Menschen mit einem geringen Selbstwertgefühl sind aber klar anfälliger. Sie versuchen permanent das, was ihnen an Selbstliebe fehlt, durch eine gute Fremdbewertung zu kompensieren. Sie tun entsprechend viel, um Anerkennung zu erhalten, haben aber oft Mühe, diese Anerkennung wirklich ernst zu nehmen. Eher reden sie ihre Leistung klein, erwarten noch mehr von sich selber als alle in ihrem Umfeld. In unserer auf permanente Höchstleistung und Wachstum fixierten Gesellschaft finden sie einen gefährlichen Nährboden. Und je höher jemand aufsteigt, desto weniger Leute hat er, die ihm offen die Meinung sagen. Wer damit kokettiert, nur vier Stunden zu schlafen und 16 Stunden pro Tag zu arbeiten, erntet Bewunderung. Also macht er weiter, bis er eines Tages vom Karussell fliegt.

Warum tun wir uns das an? Im Vergleich mit unseren Grosseltern müssten wir viel weniger arbeiten, um über die Runden zu kommen, und wir haben einen höheren Freiheitsgrad. Trotzdem ist laut aktuellem Job Stress Index jeder vierte Erwerbstätige gestresst oder erschöpft.

Unsere Grosseltern waren sehr eingeschränkt in ihren Möglichkeiten – und das hatte sein Gutes. Heute haben wir so viele Optionen, dass wir permanent unter Druck stehen, noch mehr aus unserem Leben zu machen. Früher ergriff man den Beruf seines Vaters und heiratete ein Mädchen aus dem Quartier. Heute haben wir so viele Freiheiten, dass es verdammt schwierig ist herauszufinden, was wir wirklich wollen. So nehmen wir gerne Zuflucht zu einfachen Antworten: noch schneller, noch höher, noch weiter. Weil sie sich innerlich leer fühlen, mühen sich Menschen in einem Job ab, zu dem sie keinen Bezug haben, wohnen auf 150 Quadratmetern, leisten sich luxuriöse Ferien, kaufen drei Autos, legen sich teure Freizeitbeschäftigungen zu und beklagen sich über diese Sachzwänge und den hohen Preis, den sie für dieses Lebensmodell zahlen. Mit freiwilliger Selbstbeschränkung liessen sich viele dieser Probleme relativ leicht lösen.

Was meinen Sie damit?

Ich bin zum Beispiel seit jungen Jahren ein Zirkusfan, vielleicht auch, weil ein wenig Zigeunerblut in meinen Adern fliesst. So entschieden wir uns vor einigen Jahren als Familie, den Circus Monti acht Monate lang zu begleiten. Wir lebten zu dritt auf 15 Quadratmetern, aber uns fehlte nichts, im Gegenteil: Es war eine sehr intensive, lebendige Zeit. Würden wir uns weniger Glück vom Materiellen erhoffen, fänden wir einen besseren Zugang zu uns selber und fänden leichter eine Antwort auf die Frage, wie wir leben und was wir beruflich bewegen wollen. Es spricht nichts gegen berufliche Höchstleistungen, gefährlich wird es, wenn sie aus kompensatorischen Motiven heraus erbracht werden: um einer Existenzangst zu entfliehen, um geliebt zu werden, um sich nicht mit einer Sinnleere zu konfrontieren. Überhaupt haben die meisten Menschen panische Angst vor dem Nichtstun. Manche bekommen schon einen roten Kopf, wenn ich ihnen im Rahmen der Therapie sage, ihre nächste Aufgabe sei, für eine halbe Stunde untätig dazusitzen. Dabei kann Langeweile ein so produktiver Zustand sein, wenn wir sie uns erlauben.

Sie haben noch gar nicht vom Arbeitsklima in den Unternehmen gesprochen. Das hat doch auch einen gewichtigen Einfluss darauf, ob jemand an Burnout erkrankt.

Ja, wir wissen aus der Forschung, dass vor allem die Beziehung zum direkten Vorgesetzten entscheidend ist. Und natürlich, ob ich das Gefühl habe, meine Tätigkeit sei eingebettet in ein sinnvolles grösseres Ganzes. Aber in jedem Fall stellt sich die Frage nach der Selbstverantwortung, oder konkreter: Wie viel mache ich mit? Wie lange lasse ich mich von einem Chef klein halten? Warum bleibe ich in einem Umfeld, das mich krank macht? Meine Erfahrung ist, dass viele Menschen so lange ausharren, bis ihnen die Energie für eine Veränderung fehlt. Deswegen empfehle ich, sich immer eine innere Unabhängigkeit zu bewahren; sich so zu organisieren, dass man wenn nötig am Freitag sagen kann, man komme am Montag nicht mehr. Das ist bei der Arbeit ganz ähnlich wie in Beziehungen: Man sollte sich immer wieder aktiv für jemanden oder etwas entscheiden und nicht bleiben aufgrund eines Mangels an Optionen. Dass beispielsweise in Deutschland 7 von 10 Angestellte resignativ unzufrieden sind, richtet einen volkswirtschaftlichen Schaden von 150 Milliarden Euro an. Das müsste nicht sein, wenn die Leute ihr Leben in die Hand nehmen würden.

Auch in der Schweiz tun sich Menschen schwer, beruflich etwas Neues in Angriff zu nehmen.

Dieses Gefühl, ausharren und durchhalten zu müssen, macht viele kaputt. Seit ich über fünfzig bin, werde ich immer wieder gefragt: «Wie lang muesch no?» Mich befremdet diese Frage. Ich muss gar nichts, auch nicht aufhören mit 65. Mir ist klar, dass wir irgendwie unseren Lebensunterhalt verdienen müssen und dass es bei körperlich sehr anstrengenden Berufen gute Gründe gibt, mit 60 oder 63 Jahren in Rente zu gehen. Aber bei gesunden Menschen ohne körperlichen Verschleiss im Beruf gibt es doch keinen Grund, 10 oder 15 Jahre lang die Pensionierung herbeizusehnen. Die können sich doch verändern, etwas Neues in Angriff nehmen. Deshalb bin ich trotz Sympathien für die Gewerkschaftsanliegen auch gar nicht so sicher, ob beispielsweise der hohe Kündigungsschutz bei Angestellten im öffentlichen Dienst generell ein Segen ist. Wenn ein Arbeitsverhältnis unkündbar ist, müssen beide Seiten nicht mehr Ja sagen zueinander, sondern sie müssen sich aushalten.

Woran kann man erkennen, dass es höchste Zeit ist, etwas zu verändern?

Anhaltende Schlafprobleme sind ein wichtiges Warnsignal. Da lohnt es sich, die eigene Situation mit einem Fachmann anzuschauen statt mit Medikamenten nachzuhelfen. Hellhörig werde ich auch, wenn jemand oft am Wochenende oder in den Ferien krank wird, weil das Immunsystem dann eine Gegenreaktion zur permanenten Überlastung zeigt. Weitere Indikatoren sind eine erhöhte Reizbarkeit, Zynismus – auch sich selber gegenüber – und das Gefühl, bei immer mehr Aufwand immer weniger leisten zu können.

Wie kann man sich selber schützen, wenn man solche Anzeichen von Überlastung feststellt?

Man sollte sich fragen, was einem gut tut, und dafür fixe Zeiten im Kalender blockieren. Es ist so schwierig wie wichtig, die eigenen Bedürfnisse zu erkennen und mindestens so ernst zu nehmen wie die Erwartungen anderer. Darüber hinaus hilft Bewegung, weil der Körper dabei Stresshormone abbaut. 10’000 Schritte am Tag sind dabei ein sinnvolleres Ziel als die Teilnahme am nächsten Marathon, was zusätzlichen Druck aufbauen kann. Konkret bedeutet das: keine Rolltreppen und keinen Lift benutzen, mehr zu Fuss gehen statt im Bus fahren, öfter in den Wald gehen statt ins Warenhaus, mehr spazieren statt surfen im Internet. Und immer wieder ganz abschalten von der Arbeit. Ich ziehe mich zum Beispiel immer um nach Feierabend und schaffe so bewusst Distanz. Wenn ich meine Arbeitskleider weggelegt habe, bin ich ganz Vater und Partner und die Arbeitssorgen sind weit weg.

Information und Kontakt: info@andizemp.ch oder www.andizemp.ch

Dieser Artikel wurde erstmals am 12. Mai 2018 publiziert und am 25. Juli 2023 in dieses Redaktionssystem übertragen.