Drohende Schlacht um Cherson«Dann kommt die Krim in Reichweite der Himars-Raketenwerfer»
Die russische Armee bereite einen geordneten Rückzug aus dem südukrainischen Cherson vor, doch sei keineswegs sicher, ob Moskau die Stadt wirklich aufgebe, sagt die Sicherheitsexpertin Sarah Pagung.
Die Lage um Cherson gibt Rätsel auf. Seit Tagen werden aus der Region um die besetzte südukrainische Grossstadt Rückzugsbewegungen russischer Truppen gemeldet. In sozialen Netzwerken kursieren Bilder und Videos verlassener Verwaltungsgebäude und Checkpoints. Allerdings gibt es auch Berichte über systematische Plünderungen und russische Soldaten, die sich in Häusern verschanzen und sich auf einen Häuserkampf vorbereiten.
Die ukrainische Armee hatte schon vor Monaten eine Offensive bei Cherson angekündigt und versucht, mit gezielten Raketenangriffen die russischen Versorgungslinien zu stören, um die Besatzer so zum Rückzug zu zwingen. Geht diese Strategie auf? Oder ist der vermeintliche Rückzug nur eine Falle, wie eine Sprecherin des ukrainischen Verteidigungsministeriums vor ein paar Tagen vermutete? «Die Russen bereiten sich bei Cherson auf einen geordneten Rückzug vor, damit ihnen nicht passiert, was bei Charkiw passiert ist, nämlich ein panikartiger und ungeordneter Rückzug, bei dem eine Vielzahl von Equipment und militärischem Material zurückgelassen wurde», sagt Sarah Pagung, Expertin für russische Sicherheitspolitik bei der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik.
Pagung hält Rückeroberungen der ukrainischen Armee in der Region für durchaus möglich. «Es gibt seit August eine Offensive im Süden, die aber nicht die Erfolge hatte wie im Nordosten bei Charkiw, was auch damit zu tun hat, dass Russland seine fähigen Kräfte in den Süden verlegt hat. Trotzdem sehen wir einen langsamen Vorstoss der ukrainischen Kräfte, und die Chance einer Rückeroberung ist sehr gut, was aber nicht bedeutet, dass es auch so kommen wird.»
Der Verlust Chersons wäre strategisch und symbolisch ein schwerer Schlag: Über den Dnjepr gelangt ein grosser Teil des Trinkwassers auf die von Russland annektierte Halbinsel Krim, und Cherson ist die einzige Hauptstadt einer ukrainischen Region, die Russland bisher einnehmen konnte. «Es würde ausserdem bedeuten, dass die Krim in Reichweite der Himars-Mehrfachraketenwerfer kommt», sagt Sarah Pagung. «Ich würde deshalb nicht davon ausgehen, dass die russische Armee Cherson einfach aufgibt.» Steht also ein erbitterter Stadtkampf bevor? Für Russland wäre eine Schlacht um Cherson auch eine Gelegenheit, ukrainische Kräfte zu binden und ihnen schwere Verluste zuzufügen. Pagung gibt allerdings zu bedenken: «Häuserkampf ist anspruchsvoll und verlustreich, das gilt aber nicht nur für die Angreifer, sondern auch für die Verteidiger.»
Es ist unklar, welche langfristige Strategie die russische Armee verfolgt. Gibt es noch Bemühungen, weitere Teile der Ukraine einzunehmen, oder geht es nur noch um Schadenbegrenzung? «Ich sehe derzeit nicht die Kapazitäten für eine russische Offensive, das kann sich aber in ein paar Monaten ändern», sagt Pagung. «Die russische Strategie scheint darauf abzuzielen, das, was man jetzt hat, zu halten und die eigenen Linien mit mobilisierten Kräften aufzufüllen, gleichzeitig aber einen Teil dieser neu mobilisierten Kräfte besser auszubilden.»
«Ein ukrainischer Durchbruch bei Mariupol wäre der strategische Super-GAU für die russische Armee.»
Als möglichen entscheidenden Faktor sieht sie den Einsatz von Luftstreitkräften. «Der Fortschritt der Ukrainer basiert auch darauf, dass die russische Armee nicht die Lufthoheit hat. Das hat die Ukraine mithilfe westlicher Waffenlieferungen sehr gut erarbeitet, und Russland hatte ausserdem sehr hohe Verluste an Kampfflugzeugen.» Das kann sich aber schnell ändern, wenn westliche Unterstützung ausbleibt oder neue Waffensysteme eingesetzt werden. «Mit den iranischen Drohnen kann Russland jetzt wieder wesentlich günstiger und einfacher in ukrainisches Gebiet vordringen.»
Am Dienstag teilte der britische Geheimdienst mit, russische Truppen würden Verteidigungsanlagen bei der Hafenstadt Mariupol errichten. Rechnet die russische Armee auch an dieser Stelle mit einem ukrainischen Gegenangriff? «Ein ukrainischer Durchbruch bei Mariupol wäre der strategische Super-GAU für die russische Armee. Damit wäre die Landbrücke zur Krim durchbrochen, und die Kräfte in Cherson wären abgeschnitten», erklärt Pagung. «Ich vermute aber, dass die Ukraine dafür derzeit nicht die Kräfte hat.»
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