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Kino-Phänomen «C’è ancora domani»
Dieser Film ist in Italien erfolgreicher als «Barbie»

Mehr als fünfeinhalb Millionen Zuschauerinnen und Zuschauer haben in Italien den Film von Paola Cortellesi gesehen, die auch die Hauptrolle der Hausfrau Delia spielt.
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Alles beginnt mit einer Ohrfeige. Kaum hat sich Delia morgens im Bett zu ihrem Mann Ivano umgedreht und «Buongiorno» gesagt, klatscht es. Guten Morgen. Schon die erste Szene in Paola Cortellesis Film «C’è ancora domani» setzt den Ton.

Gewalt gehört in diesem Haus zur Tagesordnung, wie das Haarebürsten, zu dem Delia danach übergeht. Ihr Mann kratzt sich herzhaft im Schritt, sie kickt mit dem Fuss die Maus, die unters Bett flitzt. Die Zeiten sind hart im Rom des Jahres 1946, der Zweite Weltkrieg klingt noch nach in Italiens Kinofilm der Stunde.

Er heisst «C’è ancora domani», und darin patrouillieren amerikanische Soldaten in italienischen Strassen, lassen sich Chicorée für ein paar Zigaretten andrehen. Trotzdem klingt alles nach Aufbruch, die Leute merken, dass sich was tut im Land, auf Mauern steht ein Schriftzug gepinselt, der das Ende der Monarchie fordert: «Savoyen weg, hurra Republik».

Leben im Untergeschoss einer Arbeitersiedlung

Tatsächlich konnten Frauen in dem Jahr, in dem die Geschichte spielt, in Italien zum ersten Mal wählen gehen und in einem Referendum über die Abschaffung der Monarchie abstimmen. Die Republik hat gewonnen, der 2. Juni ist immer noch Italiens Nationalfeiertag.

Laut ihrem Schwiegervater hat Delia – hier bei der Rauchpause mit einer Freundin – «einen Defekt: Sie spricht.»

Im Kleinen ist es mühsam, so lautet die Geschichte hier. Delia und ihr Mann Ivano (Valerio Mastandrea) leben im Untergeschoss einer Arbeiter-Wohnanlage. Zu Tagesbeginn, wenn Delia die Fenster öffnet und auf das Trottoir schaut, pinkelt ihr auch mal ein Hund entgegen.

Von den drei Kindern beachtet der Vater vorwiegend die beiden verzogenen Söhne. Hier arbeiten die Frauen mit, um alle durchzubringen, neben den Kindern lebt bettlägrig auch der Grossvater mit in der Wohnung. Wenn er Hunger hat, klopft er mit seinem Spazierstock laut gegen die Wand. Und dann sind da noch die Schläge, die Delia von Ivano kassiert.

Düster, aber mit Witz, Ironie und guter Musik

«C’è ancora domani» ist in Schwarzweiss gedreht und erinnert an den Stil des italienischen Kino-Neorealismus nach dem Krieg, und die düsteren Themen Armut, häusliche Gewalt und Unterdrückung könnten die Farblosigkeit rechtfertigen. Aber es geht hier gar nicht so düster zu wie in «Ladri di biciclette» von Vittorio de Sica oder in Viscontis «Rocco e i suoi fratelli». Dafür inszeniert Cortellesi alles zu modern, baut Witz und Ironie ein und gute Musik: So läuft Delia, die Cortellesi auch selbst spielt, zur Musik von Outkast durch die Strassen.

«C’è ancora domani» scheut nicht davor zurück, die Machos in ihrer Umgebung trocken zu kommentieren.

Als Ausweg aus der Misere wird gesehen, dass Tochter Marcella bald heiraten soll, den charmanten Giulio, dessen Vater die beste Bar am Platz betreibt. Mithilfe eines Kompagnons, der «mehr Leute an die Deutschen verkauft hat als du Kaffees in der Bar», wie der Grossvater beim Verlobungsmittagessen feststellt. Aber wen störts, wenn ein angenehmeres Leben winkt?

In der täglichen Tristesse schimmern Witz und Hoffnung durch. In einem ihrer Jobs flickt Delia Regenschirme und zeigt es einem jungen Mann, es ist sein erster Arbeitstag. 40 Lire bekomme er, sagt er, der nicht wie der Smarteste wirkt. Das ist mehr, als Delia nach drei Jahren bekommt. Als sie ihren Chef darauf anspricht, antwortet der schlicht: «Er ist eben ein Mann.» In dem Moment hebt Delia eine Augenbraue, ganz dezent, wortlos. Ihr Blick hat nichts Verzagtes, sondern etwas Waches. Und sie scheut nicht davor zurück, diese Machos in ihrer Umgebung trocken zu kommentieren.

Als der bettlägerige Vater den Sohn beiseitenimmt, um über Delia zu sprechen, sagt er: «Diese ständigen Prügel, das geht nicht.» Um gleich danach zu präzisieren: «Sonst gewöhnt sie sich daran.» Ab und an müsste es sein, aber dann mit voller Wucht, so lautet der väterliche Rat. «Sie ist eine gute Hausfrau. Aber sie hat einen Defekt: Sie spricht.»

Sie selbst gönnt sich nichts

Im Italienischen gibt es den Ausdruck furba, der in etwa so etwas wie «listig» oder «gewieft» heisst, und das trifft auf diese Delia zu, die sich im alltäglichen Elend ihre Fluchten sucht. Immer wieder zwackt sie etwas von ihrem verdienten Geld ab, das sie natürlich ihrem Ehemann abgeben muss. So hat sie heimlich bereits 8000 Lire angespart, für Marcellas Brautkleid. Sich selbst gönnt sie nichts, obwohl sie Wünsche hat. Immer wieder bleibt sie vor einem Laden stehen, der Stoffreste für 300 Lire anbietet.

Paola Cortellesi während der Dreharbeiten. Die Regisseurin ist eigentlich Komikerin.

«C’è ancora domani» ist das Regiedebüt von Paola Cortellesi. Man merkt, dass sie eigentlich Komikerin ist und in ihren Auftritten schon immer wieder Gleichberechtigung thematisiert hat. Selbst in den hässlichsten Szenen liegt ein Funken Witz. Selten haben zwei Verliebte so süss miteinander Schokolade gegessen, und wo man gleich fiese Prügel erwartet, folgt plötzlich ein Tanz.

Überhaupt ist der Film bis zuletzt überraschend. «Ich wollte einen realistischen Ton», erzählte Cortellesi zuletzt dem «Guardian». Und es sei sehr italienisch, selbst die tragischsten Situationen mit Humor zu nehmen.

Erinnerung an den Fall Giulia Cecchettin

Inspiriert zu dem Film wurde Cortellesi durch die Erzählungen ihrer Grossmutter. Knapp achtzig Jahre später treffen die Themen strukturelle Benachteiligung von Frauen und häusliche Gewalt immer noch einen Nerv. In Italien haben mehr als fünfeinhalb Millionen Zuschauer den Film gesehen, mehr als «Barbie», er wurde der meistgesehene Film 2023. Ausserdem gehört er zu den zehn meistgesehenen italienischen Filmen, als erster Film einer Regisseurin.

Und er stand am Anfang einer gesellschaftlichen Debatte. Im vergangenen November, da lief er schon im Kino, wurde die 22-jährige Studentin Giulia Cecchettin aus Venedig erstochen. Ihr Ex-Freund wurde in Deutschland gefasst, er hat die Tat gestanden. Im ganzen Land gingen Menschen auf die Strasse, Vater und Schwester der ermordeten Studentin suchten die Öffentlichkeit, um sich in einem grossen Problem des Landes zu engagieren.

In dieser Hinsicht rüttelt «C’è ancora domani» auf, Cortellesis Film ist Melodram, Komödie und Anklage zugleich. Mehr als 100 Femizide passieren in Italien pro Jahr. Nur die Hälfte der Frauen ist berufstätig, in Süditalien arbeitet sogar nur jede Dritte. Viele erkennen sich in der Figur Delia wieder, selbst Italiens Ministerpräsidentin Giorgia Meloni, die genau das Frauenbild der Männer aus dem Film favorisiert und fördert, fühlte sich genötigt, ihn «mutig und inspirierend» zu nennen. Schulen wollen ihn im Unterricht zeigen.

Delias Mann macht sie vor den Kindern herunter, Respekt gibt es nicht. Eine Fussmatte sei sie, sagt die Tochter Marcella einmal, «unwichtig und wertlos», und ob ihr das nicht klar sei. In einem Brief, der ausdrücklich an sie adressiert ist, sieht Delia einen möglichen Ausweg. «Nie machst du was», wirft ihr Marcella in einem Streit vor. «Das denkst du», sagt Delia. Die Stoffreste für 300 Lire hat sie da schon gekauft.