Landwirtschaft im Wandel Bund will neue Pestizide schneller zulassen
Bei der Zulassung neuer Pflanzenschutzmittel staut es. Nun reagiert das Bundesamt für Landwirtschaft. Doch Bauern und Industrie sind noch nicht zufrieden.
Die beiden Agrarinitiativen haben die Bauern im Juni mithilfe des Stimmvolks gebodigt. Doch der Druck, weniger Pestizide zu brauchen, bleibt hoch. Zum einen hat das Parlament beschlossen, die Risiken des Pestizideinsatzes bis 2027 zu halbieren. Zum anderen schrumpft die Palette an Pflanzenschutzmitteln, auf welche die Landwirte zurückgreifen können.
Allein in diesem Jahr hat der Bund – analog zur EU – 20 Wirkstoffe vom Markt genommen; bis Ende Jahr folgen sechs weitere, wie das Bundesamt für Landwirtschaft (BLW) auf Anfrage bekannt gibt. Gleichzeitig haben die Bundesbehörden für 10 neue Wirkstoffe grünes Licht gegeben. Unter dem Strich ergibt das ein Minus von 16 Wirkstoffen. Damit sind in der Schweiz ab 2022 noch 354 Wirkstoffe in Gebrauch. 2005 waren es noch 435,22 Prozent mehr.
Die Ausdünnung hat zwei Gründe. Einerseits muss die Schweiz faktisch nachvollziehen, was die EU macht. Die geltende Gesetzgebung räumt ihr kaum Spielraum ein, wenn in der EU ein Stoff verboten wird. Andererseits müssen Wirkstoffe, die heute zugelassen werden, deutlich strengere Umweltkriterien als früher erfüllen. Das hat Folgen. Als der Bund diesen Januar verschiedene Akteure im Bereich der Landwirtschaft über den bevorstehenden Wegfall von 20 Wirkstoffen informierte, stellte er klar, bei einem Teil der Kulturen seien «Schwierigkeiten zu erwarten». So steht es in einem Schreiben des BLW, das dieser Redaktion vorliegt. Der Grund: Zur Bekämpfung gewisser Schadinsekten und Krankheiten gibt es schlicht keine Alternative.
Anti-Resistenz-Strategie «nicht mehr möglich»
Illustrieren lässt sich das Problem anhand des Fungizids Mancozeb, wie aus dem Schreiben hervorgeht. In mehreren Gemüsekulturen ist demnach der Schutz gegen eine oder mehrere Krankheiten nicht mehr möglich. Betroffen sind Salate, Bohnen, Kefen, Rhabarber und Rucola. Hinzu kommt: In mehreren Gemüsekulturen bleiben nur ein bis zwei – statt wie üblich drei bis vier – einzelne Wirkstoffe zur Bekämpfung von Krankheiten. Damit sei die Strategie, die Entwicklung von Resistenzen zu vermeiden, «nicht mehr möglich», resümiert das BLW im Schreiben.
Der Bauernverband zeigt sich darob besorgt. Chemischer Pflanzenschutz funktioniere nur durch den Wechsel des Wirkstoffs, sagt David Brugger, Leiter Pflanzenbau. Wie bei gewissen Medikamenten müsse zwingend einer Resistenzbildung vorgebeugt werden. «Das können wir in der Landwirtschaft nicht mehr überall tun.» Noch ist die Lage über alles gesehen nicht dramatisch, wie Brugger sagt. Aber: Mit dem Parlamentsentscheid, den Pestizideinsatz zu halbieren, sowie dem absehbaren Rückzug weiterer Wirkstoffe werde das Problem wachsen und schlimmstenfalls in grossflächige Resistenzen münden. «Bei einigen Schädlingen, etwa im Raps und bei Gemüse, sind wir schon so weit», sagt Brugger.
Der Bauernverband bekennt sich zwar zum Reduktionsziel der Politik. Brugger verweist aber auf den Aktionsplan Pflanzenschutzmittel des Bundes. Dieser gewichtet den Schutz der Kulturen gleich hoch wie das Ziel, weniger Pestizide zu gebrauchen. «Die Behörden», folgert Brugger, «nehmen Lücken beim Schutz der Kulturen zunehmend in Kauf.» Der Bauernverband warnt vor den Konsequenzen dieser Politik: mehr schlechte Ernten, mehr Importe aus dem Ausland.
«Der Bund muss sicherstellen, dass risikoärmere Alternativen rasch auf den Markt kommen.»
Kritisch äussert sich auch die Industrie, welche Pflanzenschutzmittel herstellt. Wenn der Bund die Risiken des Einsatzes von Pflanzenschutzmitteln senken wolle, dürfe er nicht nur problematische Wirkstoffe zurückziehen, sagt Marcel Sennhauser, stellvertretender Direktor von Scienceindustries. «Er muss auch sicherstellen, dass risikoärmere Alternativen rasch auf den Markt kommen.» Doch das Zulassungsverfahren stelle forschende Agrarunternehmen vor grosse Schwierigkeiten. «Zahlreiche Gesuche stecken im Prozess fest, zum Teil seit über fünf Jahren», sagt Sennhauser. Dabei handle es sich um Wirkstoffe und Produkte, die im benachbarten Ausland längst zum Einsatz kämen.
Personaletat wird erhöht
Derzeit sind 349 Zulassungsgesuche für neue Pflanzenschutzmittel hängig; im Juli waren es 391. Der Berg ist also etwas kleiner geworden. Und er soll weiter schrumpfen, und zwar beschleunigt. «Wir wollen die Bearbeitungszeit für die Gesuche verkürzen», sagt BLW-Sprecherin Florie Marion. Das BLW schafft dafür zwei neue Stellen, die eine ist schon besetzt, die andere wird es per 1. Januar. Damit erhöht sich am neuralgischen Punkt der Personaletat von 890 auf 1090 Stellenprozent.
Auch das Bundesamt für Lebensmittelsicherheit und Veterinärwesen (BLV), das für die gesundheitliche Risikobewertung von Pflanzenschutzmitteln zuständig ist, hat aufgestockt: von 320 auf 520 Stellenprozent. Ob das ausreicht? Nein, sagen Bauernverband und Scienceindustries unisono. Dies sei ein gut gemeinter Anfang, sagt Sennhauser von Scienceindustries, aber bei weitem nicht ausreichend.
Fehler gefunden?Jetzt melden.