Parlament hebelt Kantonsregelungen ausBürgerliche feiern Etappensieg gegen Mindestlöhne
Via Gesamtarbeitsverträge, die oft tiefere Löhne festlegen, sollen Mindestlöhne ausgehebelt werden. Linke und Gewerkschaften sind entsetzt und hoffen jetzt aufs Volk.
Es ist ein äusserst seltener Vorgang in der Schweizer Demokratie: Auf Antrag aus dem Ständerat, der Kammer der Kantonsvertreter, übersteuern die eidgenössischen Räte ausgerechnet die Rechte der Kantone. Gleichzeitig foutieren sie sich um ein Bundesgerichtsurteil.
Nach dem Ständerat hat am Mittwoch auch der Nationalrat einer Motion des Obwaldner Standesherren Erich Ettlin (Mitte) zugestimmt: Von Kantonen erlassene und durch Volksabstimmungen legitimierte Mindestlöhne, die sich derzeit zwischen 20 und 23 Franken pro Stunde bewegen, sollen künftig durch allgemein verbindliche Gesamtarbeitsverträge (GAV) ausgehebelt werden können. Dies, obwohl gemäss Bundesgericht Kantone das Recht haben, Mindestlöhne zu erlassen.
In Genf profitieren Angestellte in sieben Branchen
Was dies bedeutet, lässt sich am Beispiel Genf gut illustrieren: Der welsche Kanton hat vor zwei Jahren einen Mindestlohn von 23.27 Franken eingeführt. Das hatte zur Folge, dass laut der Gewerkschaft Unia in sieben Branchen höhere Löhne ausbezahlt werden müssen, als dies in den jeweils national geltenden Gesamtarbeitsverträgen geregelt ist. Dies betrifft etwa das Coiffeurgewerbe, das Gastgewerbe oder Angestellte in Tankstellenshops oder in der Uhren- und Mikrotechnikindustrie. Sie müssen sich darauf einstellen, dass sie Ende Monat wieder weniger Geld im Portemonnaie haben. Denn die Arbeitgeber müssen sich künftig nicht mehr an den kantonalen Mindestlohn halten, sondern lediglich den im GAV vorgesehenen Lohn auszahlen.
Fünf Kantone haben Mindestlöhne eingeführt. Es sind dies Neuenburg, Jura, Genf, Basel-Stadt und Tessin. Dass die Einführung von Mindestlöhnen durchaus eine Wirkung erzielen kann, zeigt sich in Neuenburg. Der Kanton des Jurabogens hat 2017 einen Mindestlohn von 20 Franken eingeführt. Laut dem Kanton Neuenburg profitieren 3 Prozent der Beschäftigten vom kantonalen Mindestlohn, davon seien zwei Drittel Frauen. Negative Folgen für den Arbeitsmarkt habe man nicht festgestellt.
Die erste Studie zu den Folgen eines Mindestlohns in der Schweiz haben Ökonomen der Universität Neuenburg 2020 veröffentlicht. Sie haben untersucht, welche Folgen sich für Restaurant-Beschäftigte mit einem Mindestlohn von 19.78 Franken pro Stunde ergeben haben. Gemäss der Untersuchung hat die Einführung zu einer deutlichen Reduktion von Beschäftigten mit tiefen Löhnen geführt, nicht aber zu einem Stellenabbau. Insgesamt weisen die Daten sogar auf eine leichte Zunahme der Beschäftigung in den Restaurants hin.
Geharnischte Reaktionen
Dass das Parlament trotz solcher positiver Erfahrungen die Rechte von Angestellten schwächt, sorgt bei Gewerkschaften und Linken für Unverständnis. Das sei eine «Sabotage der Sozialpartnerschaft», sagt etwa der Schweizerische Gewerkschaftsbund. Cédric Wermuth, Nationalrat und Co-Präsident der SP Schweiz, spricht von «einem Hohn gegenüber allen, die sowieso schon wenig zum Leben haben». Für Katja Signer Hofer von der Unia ist der Entscheid insbesondere für Grenzregionen wie Genf und Neuenburg besorgniserregend – dies in einer Zeit, in der über den Schutz der Löhne und das Verhältnis zu Europa Diskussionen stattfinden.
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Ganz anders die Gefühlslage bei den 27 Wirtschafts- und Branchenverbänden, die sich für dieses Anliegen zu einer Allianz formiert haben. Für sie ist der 14. Dezember 2022 das vorläufige Ende eines langen Kampfes: Seitdem sich im Kanton Neuenburg die Bevölkerung für die Einführung eines Mindestlohns entschieden hatte, war bei den Wirtschaftsvertretern Feuer im Dach. Sie wehrten sich mit allen Mitteln gegen dieses ihrer Ansicht nach starre und dirigistische Instrument. Um den welschen Kanton an der Einführung zu hindern, zogen sie bis vor Bundesgericht. Sie scheiterten.
Doch die Einführung in weiteren Kantonen, insbesondere diejenige 2021 in Basel-Stadt, die erste in der Deutschschweiz, alarmierte sie. Nun versuchten es die Wirtschaftsverbände über die eidgenössischen Räte. Sie fühlten sich bestärkt durch das wuchtige Volks-Nein von 2014 zu einem nationalen Mindestlohn von 4000 Franken pro Monat. Am Mittwoch konnten sie die Champagner zumindest einmal kaltstellen lassen. Die Feier verderben möchten Gewerkschaften und Linke: Sie machten bereits kurz nach dem Parlamentsentscheid klar, dass sie diese Gesetzesvorlage bekämpfen werden. Damit dürfte das Volk das letzte Wort haben.
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