TV-KritikMike Tyson total verprügelt – das sind die Gründe
Heute Morgen veranstaltete Netflix einen Boxkampf zwischen Mike Tyson und dem Youtube-Boxer Jake Paul. Der Streamingdienst übertrug das dubiose Spektakel live.
- Ex-Boxchampion Mike Tyson und Youtuber Jake Paul kämpften gegeneinander im Rahmen eines Profikampfs.
- Der 58-jährige Tyson konnte dem 27-jährigen Paul nicht viel entgegensetzen.
- Netflix übertrug den Kampf live. Boxen wird zunehmend zum Lifestyle-Phänomen, auch dank Influencern wie Paul.
Worte können mehr schmerzen als Schläge, sogar im Boxsport. Deshalb beleidigen sich Boxer vor den Kämpfen gerne. Bei Mike Tyson gegen Jake Paul klang das vor der Action im Ring so:
«Mike, online gibt es viel Gerede, dass du mich umbringen wirst. Ist das, was du tun wirst?»
Tyson zuckte mit den Schultern. «Ich bin einfach bereit.»
Paul jammernd: «Das ist ziemlich verdammt langweilig.»
Der kurze Dialog zeigte, worum es in diesem Kampf ging: Ein grossmäuliger Youtube-Star, der gegen einen 58-jährigen Ex-Weltmeister antritt. Live gestreamt auf Netflix, eine Premiere für den Streamingdienst, der in Zukunft weiteren Livesport übertragen will. Kein Wunder: Was heute Morgen für die 300 Millionen Netflix-Abonnenten gratis zu sehen war, dürfte selbst für Netflix-Verhältnisse ein Quotenkracher gewesen sein. Jedenfalls stockte die Übertragung beim Streaming-Giganten immer wieder.
Netflix steht für Unterhaltung, und da war es nur passend, dass Jake Paul in einem grünen Chevrolet-Cabriolet in die Arena hereinrollte. Danach hielt Mike Tyson Einzug, zu Fuss, in einfacher schwarzer Boxkluft, Handtuch über der Schulter. Das Publikum johlte, offenbar hatte Tyson mehr Fans in der Halle als Paul.
Dann der Gong! Die Kämpfer trafen sich in der Mitte des Rings. Tyson stürmte vor, wich ab und bewegte sich auf und ab, wie in alten Zeiten. Er landete einen Treffer, einen zweiten. Doch keiner davon brachte Paul aus der Ruhe. So gings weiter, bis die Runde vorbei war. «Könnte interessant werden!», dachte man sich.
Zwar galt die Begegnung als Profikampf, der in die Bilanzen der Athleten einfliesst, aber wegen Tysons Alter hatte man die Regeln abgeändert. Anders als in einem gewöhnlichen Profikampf wurde nur über acht statt zwölf Runden gekämpft, die jeweils zwei statt drei Minuten gingen.
Ja, mit 58 Jahren liegt Tysons beste Zeit schon ziemlich lange zurück. 1997, als Jake Paul geboren wurde, hatte Tyson bereits 47 Profikämpfe auf dem Buckel. Beim Netflix-Boxkampf verhielt es sich also ein bisschen wie mit den römischen Gladiatorenkämpfen, wo der Reiz darin lag, unterschiedliche Gladiatorengattungen gegeneinander antreten zu lassen. Brutale Schauspiele zwischen ungleichen Gegnern mit ungewissem Ausgang. Menschen gegen Tiere. Löwen gegen Tiger. Heute, 2000 Jahre später, stand auf dem Programm: ein junger, gepumpter Youtuber gegen einen alten Boxchampion.
Gong, Runde zwei! Tyson startete wieder aggressiv, doch Paul entzog sich seinen wilden Angriffen. Und dann traf Paul mit drei linken Schlägen in Folge, und Tyson wankte. Paul landete weitere präzise linke Haken an Tysons Schläfe. Der alte Boxer sah bereits erschöpft aus – es war traurig mitanzusehen.
In der Halle wurde es stiller, mit derart klaren Stärkeverhältnissen hatte man nicht gerechnet. Die Kommentatoren versuchten, die Spannung zu erhalten, indem sie an Tysons Vergangenheit erinnerten. Auf dem Höhepunkt seiner Boxkarriere galt er als «der gefährlichste Mann der Welt» und war von 1987 bis 1990 der unangefochtene Weltmeister im Schwergewicht. «Er ist für seine K.-o.-Schläge berüchtigt», schrie der Kommentator. Doch die landete Tyson buchstäblich vor Jahrzehnten.
Der weitere Verlauf des Kampfs ist deshalb schnell erzählt. Die Beine Tysons wirkten müde, während Pauls Kombinationen immer flüssiger wurden. Der alte Mann versuchte mit Oberkörperbewegungen den Schlägen des Jüngeren auszuweichen, doch dieser traf immer wieder mit einem linken Haken. Irgendwann sah Tyson danach aus, was er halt ist: ein 58-Jähriger mit einem bösen Knie.
Wieso guckten sich das Millionen von Menschen an? Wieso stieg Netflix hier ein? Wahrscheinlich auch, weil Boxen sich in den letzten Jahren zu einem Lifestyle-Phänomen entwickelt hat. Fitnessstudios bieten es als Teil ihres Programms an, und immer mehr Menschen sehen den Sport nicht nur als Möglichkeit zur körperlichen Fitness, sondern auch als ein Symbol für Selbstbeherrschung und Selbstverbesserung. Durch Influencer wie Jake Paul ist Boxen ausserdem zu einem Hybrid aus Sport und Unterhaltung geworden. So stieg Blödelmann Stefan Raab letzthin in den Ring, gegen die Profiboxerin Regina Halmig – und bekam tüchtig eins auf die Nase.
Dieses Schicksal ereilte auch Mike Tyson. Denn Paul – das muss man ihm lassen – boxte gut. Der Mann, der einst durch kurze Onlinevideos bekannt wurde, in denen er Spaghetti mit einer an einem Bohrer befestigten Gabel ass, bewegte sich ständig, landete regelmässig präzise Treffer und verharrte nie an einer Stelle, während Mike Tyson zu einer Statue gefror. Die Corner-Gespräche in einer der letzten Ringpausen sprachen Bände:
Tysons Coach: «Champ, you gotta get more aggressive!»
Pauls Coach: «You’re the young lion, he’s the old lion!»
Letzter Gong, letzte Runde. Des Kommentators Stimme überschlug sich nochmals, als er zum wiederholten Male heuchelte, dass Tyson vielleicht jetzt seinen K.-o.-Schlag auspacke. Aber als Zuschauer, selbst als Laie, kannte man die Antwort: Nope, zu alt, zu langsam.
Dann die Glocke, die beiden umarmten sich, Aggressionen waren keine spürbar, wahrscheinlich waren sie erleichtert, dass niemand verletzt wurde – und beide 40 Millionen reicher sind. Bei den Moderatoren wich die Aufregung auffällig schnell in die nüchterne Analyse: «Keine Überraschung, war ja eigentlich klar …»
Eine gedämpfte, fast resignierte Stimmung legte sich über das Stadion. Was für ein Unterschied zum Vorkampf zwischen Katie Taylor und Amanda Serrano, zwei richtige Boxerinnen, die ihren Sport blutüberströmt auf höchstem technischem Niveau zeigten.
In seiner Siegesrede dankte Jake Paul dem «Militär und allen Krankenschwestern und Feuerwehrleuten, die Amerika zu einem grossartigen Land machen». Tyson, wortkarg wie eh und je, versuchte sich mit einem Witz: «Vielleicht kämpfe ich als Nächstes gegen deinen Bruder.» Der stand neben Jake Paul und antwortete ganz ohne Ironie: «Motherfucker, ich bring dich um, Mike.»
Jegliche Zweifel, ob man diese verkümmerte Show ernst nehmen konnte, waren spätestens damit ausgeräumt. Was bleibt, sind drei Bitten. Netflix: Serverkapazität erhöhen. Jake Paul: Mal gegen einen aktiven Boxer antreten. Mike Tyson: Bitte für immer zurücktreten.
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