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Perfide Schockanrufe 
Betrüger stehlen die Stimme

Enkeltrick oder Schocknachricht – Telefonbetrug nimmt mithilfe von KI neue Dimensionen an. (Symbolbild)
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Es ist Donnerstag, 4. Mai, um 16 Uhr. Die Unternehmensberaterin Ruth Gerber* sitzt in ihrem Büro, als ihr Mobiltelefon klingelt. Die Nummer ist unterdrückt, doch ihre enge Freundin und Mitbewohnerin ist am Apparat: «Sie hat mir weinend gesagt, dass sie soeben eine Frau überfahren habe.» Ruth Gerber ist geschockt. Sie zweifelt nicht daran, dass sie tatsächlich ihre Freundin am Telefon hat. 

Sie will mit ihr sprechen. Doch nun ist eine andere Frau am Apparat, die sich auf Hochdeutsch als Kantonspolizistin vorstellt und den Unfall bestätigt. Ihre Freundin habe eine junge Frau Anfang 30 auf dem Zebrastreifen übersehen. Die Frau sei noch an der Unfallstelle verstorben. Ihre Freundin werde jetzt befragt und komme danach in Untersuchungshaft, da es sich um einen gravierenden Vorfall handle und Fluchtgefahr bestehe. 

Die «Kantonspolizistin» ist eine Betrügerin. Diese Schockanrufe sind eine Masche, die laut Martin Schütz, Mediensprecher der Staatsanwaltschaft Basel-Stadt, seit rund drei Jahren auch in der Region Basel «in grösserem Ausmass» festgestellt werden. Doch wie lässt sich erklären, dass Ruth Gerber ihre weinende Freundin am Telefon gehört hat?

Keine Science-Fiction, sondern bittere Realität

Es gibt zwei Möglichkeiten: Ruth Gerber hat sich getäuscht, was angesichts des Schockzustands, in dem sich die Betrugsopfer in einem solchen Moment befinden, nicht abwegig ist. Dies vermutete auch die Kantonspolizei in Zürich, wo sich Gerbers Fall abgespielt hat.

Oder aber die Stimme ihrer Freundin wurde mit künstlicher Intelligenz (KI) imitiert. Gerber ist nach Gesprächen mit mehreren IT-Experten überzeugt, es war Letzteres. Und sie ist nicht die Einzige. In letzter Zeit häufen sich weltweit Fälle, in denen die Opfer Stein auf Bein schwören, mit ihren Verwandten oder Freunden gesprochen zu haben. So beispielsweise auch ein 60-jähriger Aargauer, der gemäss mehreren Medienberichten überzeugt ist, dass die Betrüger die Stimme seiner Frau bei vorangegangenen, vorgetäuschten Verkaufsanrufen aufgenommen haben.

Dass Betrugsmaschen mit KI-Stimmimitationen keine Science-Fiction, sondern bereits Realität sind, bestätigt Oliver Bendel, Professor der Fachhochschule Nordwestschweiz: «Die Stimmen können computergeneriert gewesen sein. Es gibt dafür im Internet unzählige Anbieter. Sobald man eine Stimme hat, kann jedes Kind die Stimme synthetisieren und editieren. Es braucht dazu nicht mal Fachwissen.» Mit weiteren Tools könne man einen Text eintippen, der direkt in der nachgeahmten Stimme gesprochen werde: «So kann man sogar Telefongespräche führen.» 

Täuschend echte Resultate 

Um eine individuelle Stimme zu trainieren, brauche es etwa 15 bis 30 Minuten Material der Originalstimme. «Die Zeit verkürzt sich jedoch auf wenige Sekunden, wenn man vorher ein Sprachmodell mit einigen Tausend Stimmen trainiert hat und einige Voraussetzungen erfüllt sind. Die Resultate können so oder so täuschend echt sein», schreibt Bendel in seinem Blog zum Thema «Trickbetrug in der Schweiz mit synthetisierten Stimmen lebender Personen». 

Die wenigen benötigten Sätze finden die Betrüger bei vorangehenden Anrufen, gesprochenen Whatsapp-Nachrichten oder, ganz einfach, auf sozialen Medien wie Tiktok oder YouTube. Ruth Gerber vermutet, dass die Betrüger die Stimme ihrer Freundin von einem Anrufbeantwortertext haben. 

Betrügerin hört am Telefon mit

Das alles weiss die 55-Jährige aber noch nicht, als sie mit den Betrügerinnen am Telefon ist. Was dann folgt, klingt wie in einem Krimi. Die falsche Polizistin sorgt dafür, dass Ruth Gerber mit niemandem spricht, indem sie absolutes Stillschweigen einfordert, da es sich um ein laufendes Verfahren und beim Opfer um eine politisch exponierte Person handle. «Ich könne aber eine Kaution hinterlegen, damit die Freundin nicht ins Gefängnis müsse», so Gerber. Daraufhin wird sie mit einer «Staatsanwältin» namens Weber verbunden. Diese macht Druck. Gerber müsse bis um 18 Uhr 80’000 Franken bei der Gerichtskasse hinterlegen, ob sie das zu Hause habe? Edelmetall ginge auch. 

«Ich stand unter Schock. Ich konnte nicht mehr klar denken. Den Zeitdruck fand ich aber komisch», sagt die 55-Jährige. Trotzdem macht sie sich auf den Weg zu ihrer Bank. Die «Staatsanwältin» gibt ihr genaue Anweisungen: «Ich sollte sagen, dass ich das Geld für den Eigenbedarf brauche, sonst würde ich es nicht erhalten. Und ich durfte das Telefon nicht auflegen.»

Der Bankberater ist skeptisch, weist sie sogar auf Enkeltrickbetrüge hin. Gerber hofft insgeheim, dass die Bank ihr das Geld nicht gibt, traut sich aber nicht, etwas zu sagen, weil die «Staatsanwältin» via Telefon mithört: «Wie die Polizei mir später sagte, wurde ich wahrscheinlich ab dem Moment, in dem ich zur Bank ging, von den Betrügern beschattet.»

Mit 80’000 Franken im Taxi 

Gerber soll im Restaurant oberhalb des Gerichtsgebäudes warten, weil es knapp werde mit der Schliessungszeit. Mit 80’000 Franken im Sack steigt sie in ein Taxi. Mittlerweile ist Ruth Gerber nicht mehr nur skeptisch, sie hat Angst: «Ich fühlte mich wie gefangen.» Sie bleibt zwar mit der «Staatsanwältin» am Telefon, schreibt aber via Whatsapp heimlich ihrem Mann. Von ihm erfährt sie: Die Freundin ist nicht im Gefängnis, sondern ganz normal zu Hause: «Ich habe das Taxi dann extra mit der Karte bezahlt, um eine Spur zu hinterlassen, falls sie mich mit dem Geld entführen würden.»

Im Restaurant schnappt sich Gerber einen Block und schreibt darauf: «Ich glaube, ich werde erpresst, und habe Angst.» Das Restaurantpersonal versteht und ruft die Polizei. Die Betrüger werden nicht gefasst: «Ich war nicht kaltblütig genug, das Spiel weiterzuspielen», sagt Gerber. Zu ihrer Sicherheit wird das Geld im Polizeitresor gelagert. «Trotzdem war diese Nacht sehr unangenehm. Ich hatte Angst, dass diese Leute bei mir einbrechen, weil sie denken, das Geld sei noch bei mir.» Am nächsten Morgen begleitet sie ein Polizist in schusssicherer Weste mit dem Geld zur Bank.

«Ich kam mir unglaublich dumm vor und habe mich extrem geschämt, dass ich auf einen solchen Trick hereingefallen bin», sagt Ruth Gerber. Das sei aber genau der Grund, weshalb sie hier auch ihre Geschichte erzähle: «Es kann alle treffen. Ich bin gut ausgebildet und war viele Jahre in Leitungspositionen. Doch in dieser Situation konnte ich nicht mehr klar denken.»

Schockanrufe beschäftigen Strafverfolgungsbehörden in der ganzen Schweiz und im Ausland: «Die Regionen werden jeweils wellenartig davon erfasst», sagt Martin Schütz. In Basel kenne man das Phänomen mit KI noch nicht: «Die Betrügerinnen und Betrüger generieren unseres Wissens bislang keine Stimmen mit technischen Hilfsmitteln, sondern nutzen in Echtgesprächen perfid manipulierend den Schockmoment ihrer Opfer aus.»

Die Imitation von Stimmen bei Telefonbetrug ist laut Oliver Bendel jedoch erst der Anfang: «Dank Sprachmodellen wie GPT-4 wird man solche Anrufe in Zukunft automatisieren können. Die Automaten können sinnhafte Gespräche auf hohem Niveau führen», so Bendel. Zwar sei die Chance, ein Opfer mit einer KI hinters Licht zu führen, grösser, wenn auch echte Menschen beteiligt seien, «doch ein automatisiertes System kann 100’000 Leute gleichzeitig anrufen».

*Name geändert