Migrationsstress im TessinDie sehnlichst erwartete Bundesrätin: Baume-Schneider besucht Chiasso
Die Asylministerin macht sich ein Bild von der gestressten Grenzstadt und besucht ein Asylzentrum. «Eine positive Geste», sagt der Stadtpräsident danach. Doch das Problem, das bleibt vorerst.
Sie sind im Warten vereint. Ein Dutzend Journalistinnen und Journalisten, dazu mehrere Polizisten und Beamtinnen stehen am Montagmittag vor einem ältlichen Gebäude am Bahnhof Chiasso und starren eine verschlossene, blickdichte Glastür an. Jeden Augenblick soll hier Elisabeth Baume-Schneider hinaustreten. Niemand bewegt sich, niemand will den Moment verpassen, wenn die SP-Bundesrätin die Asylunterkunft verlässt.
Es wird ein symbolträchtiges Bild geben. Die Bundesrätin besucht die gestresste Grenzstadt. Eine Geste, die den Menschen im Mendrisiotto eines zeigen will: Ihr seid nicht allein!
Gut sichtbares Asylproblem
Chiasso und die Region stehen unter Druck. Das globale Problem mit Millionen Menschen auf der Flucht wird hier an der Grenze zu Italien besonders gut sichtbar. 8000 Menschen leben in Chiasso. 600 Asylsuchende sind in drei Bundesasylzentren untergebracht. Das sind fast zehn Prozent der Bevölkerung.
Die Folge: Überfüllte Unterkünfte und Asylsuchende, die monatelang auf einen Entscheid warten. Menschen aus Afghanistan, aus West- und Nordafrika, aus Eritrea bevölkern die kleine Grenzstadt, ein Grossteil tut dies friedlich bis passiv. Einige wenige aber nicht: Die lokalen Behörden berichten von kleineren Delikten, Ladendiebstählen, Raufereien, Einbrüchen in Autos. Weit über 500-mal musste die Polizei dieses Jahr in Zusammenhang mit Flüchtlingen ausrücken. Das sind zwei Einsätze pro Tag.
«Così non si può continuare», rufen sie in Chiasso. So kann es nicht weitergehen. Sie fühlten sich alleingelassen, sagt Bruno Arrigoni, Chiassos Bürgermeister.
Eine Unterschriftensammlung forderte explizit die zuständige Bundesrätin auf, nach Chiasso zu kommen. 2000 haben unterschrieben. Gleichzeitig formierte sich von links eine Gruppierung, die ein «offenes Mendrisiotto» propagierte.
Nun ist sie also da. Die im Tessin sehnlichst erwartete Bundesrätin.
Die SP-Politikerin lässt sich an diesem Montag eine der drei Asylunterkünfte von Chiasso zeigen. Es ist die problematischste. Laut dem Staatssekretariat für Migration (SEM) handelt es sich um eine Notinfrastruktur, die mangels Alternativen vorübergehend genutzt wird. 250 Menschen lebten darin unter sehr engen Verhältnissen, heisst es. Die Öffentlichkeit weiss das nur vom Hörensagen.
Medienvertreter haben diese Unterkunft noch nie von innen sehen dürfen. Aus Gründen des Persönlichkeitsschutzes sei dies nicht möglich, heisst es stets beim SEM. Das gilt auch heute. Alle warten draussen. Und starren die blickdichte Glastür an.
Ein Flüchtling im Fokus
Plötzlich öffnet sich diese. Hektik im Medienpulk. Kameras gehen an, Mikrofone werden in Position gebracht. Doch statt der Bundesrätin steht ein junger Mann in der Tür. Perplex blickt er in die Kameras, die auf ihn gerichtet sind. Plötzlich hält er aus einem Impuls heraus ein Papier, das er in den Händen hält, in die Höhe. Als hätte er eine Botschaft zu verkünden.
Es ist der Wegweisungsentscheid der schweizerischen Zollbehörden.
Ein Flüchtling!
Die Kameras halten drauf, jemand hält ihm ein Mikrofon hin und fragt, woher er komme, wohin er gehe. «Afghanistan. Germania», stammelt der Überforderte und verschwindet wieder hinter der Tür.
Es ist eine absurde Szene. Aber auch eine bezeichnende.
Laut dem SEM wurden im September 7120 illegale Einreisen gezählt. Im Juli waren es noch 3721. Mehr als die Hälfte dieser Einreisen erfolgt über das Tessin. Doch nur gerade mal drei Prozent stellen in der Schweiz einen Antrag auf Asyl. Die Mehrheit will gleich weiter, nach Frankreich, Deutschland oder England. Die Schweiz dient meist nur als Transitland. Einziges Erinnerungsstück für die Flüchtlinge: der Wegweisungsentscheid.
Trotzdem bleiben immer mehr Menschen auf der Flucht im Südkanton hängen. Im Balkan hat sich die Route verändert, auch übers Mittelmeer kommen wieder mehr Leute. Die Bilder aus Lampedusa gingen um die Welt.
In Chiasso aber fühlen sie sich alleingelassen.
«Eine dösende Regierung»
Das SEM sprach zwar bereits im Sommer in Zusammenhang mit der Südgrenze von einem «erhöhten Migrationsdruck». Und die Zollbehörden erhielten Verstärkung – von 15 Personen.
Die Tessiner Medien waren da aber längst im empörten Alarmmodus. Der Chefredaktor des «Corriere del Ticino» schrieb von einer «dösenden Bundesregierung».
Lange schien es, dass Bundesrätin Baume-Schneider das Problem im Tessin unterschätzt. Wiederholt beschrieb sie die Situation im Tessin als herausfordernd, aber weit entfernt von einer Katastrophe.
«Eine ernsthafte Bedrohung für die öffentliche Ordnung oder die innere Sicherheit liegt nicht vor.»
Gegenüber dieser Zeitung sagte sie Anfang Oktober: «Systematische Kontrollen an den Binnengrenzen dürfen nur eingeführt werden, wenn eine ernsthafte Bedrohung für die öffentliche Ordnung oder die innere Sicherheit vorliegt. In einer solchen Situation sind wir nicht.»
Und dann kam Marco Chiesa. Der SVP-Parteipräsident erklärte nach dem Wahlsieg seiner Partei den nationalen Medien, dass Chiasso nicht mehr lebenswert sei. Wegen des Asylchaos.
Der «Blick» berichtete wenig später aus dem «Lampedusa der Schweiz». Politiker wie der FDP-Ständerat Damian Müller meldeten sich zu Wort und warfen dem EJPD von Baume-Schneider Passivität vor. Beides war übertrieben. Chiassos Stadtpräsident Bruno Arrigoni verteidigte seine «noch immer lebenswerte» Stadt. «Ein Chaos haben wir nicht. Aber wir haben ein Problem.»
Zwischen den Grossmächten
Im Oktober nahm das Thema Migration weiter Fahrt auf. Deutschland liess mitteilen, dass es zusätzlich Grenzkontrollen an seiner Grenze zur Schweiz durchführen werde. Während Italien weiterhin, das Schengen-Abkommen brechend, keine Flüchtlinge zurücknahm. Die Schweiz zwischen den Grossmächten, Teil eines globalen Problems. Und mittendrin: Elisabeth Baume-Schneider.
Noch einmal geht die Tür zur Asylunterkunft am Bahnhof Chiasso auf. Wieder Aufregung im Medienpulk. Diesmal ist sie es tatsächlich. Elisabeth Baume-Schneider tritt aus der Tür, flankiert von ihren Mitarbeitern und im Gespräch mit Grenzbeamten. Sie wird noch dem nahen Auto-Grenzübergang einen Besuch abstatten, gegenüber den Medienvertreterinnen und -vertretern will sie nichts sagen. Eine Pressekonferenz mit Tessiner Politikern ist für später angekündigt.
Dort wird die Bundesrätin dann davon erzählen, dass sie an diesem Tag vor allem zuhören wollte, und darauf hinweisen, dass Bundesbern keineswegs indifferent gegenüber den Problemen im Tessin sei. «Wir arbeiten stark daran, Lösungen zu finden.»
Doch wie diese aussehen, wird nach diesem Tag im Tessin nicht wirklich klar. Baume-Schneider erwähnt die zusätzlichen Sicherheitskräfte, die an den neuralgischen Orten Chiassos patrouillieren. Und sie erzählt vom Bundesasylzentrum, das Mitte 2024 bei Chiasso aufgehen wird.
Dabei geht fast unter, was sie zu Beginn in einem Nebensatz mitteilt: Die Notunterkunft, die sie besucht hat und deren Frist Ende Jahr abläuft, soll weiterbetrieben werden.
Für Chiasso ist das keine gute Nachricht. Im laufenden Jahr wurden bisher rund 16’000 irreguläre Einreisen an der Schweizer Südgrenze festgestellt. Ein grosser Teil davon wird weiterhin über die südlichste Stadt der Schweiz einreisen. Das Problem, es bleibt.
Eine Geste wird nicht mehr reichen
Baume-Schneider ist Ende des Nachmittags wieder weg. Zurück bleibt ein Stadtpräsident von Chiasso, der sagt: «Ihr Besuch war eine positive Geste. Aber nun erwarten wir konkrete Lösungsvorschläge.»
In zwei Monaten will die Bundesrätin Chiasso nochmals besuchen. Dann wird eine Geste nicht mehr ausreichen.
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