Konflikt im Nahen OstenAn der Blauen Linie brodelt es bedrohlich
Nach einem Feuergefecht an der Grenze Israels zum Libanon wächst im Nahen Osten die Sorge vor einer
Eskalation. Denn das Scharmützel verweist auf eine weit grössere Auseinandersetzung
Es ist ein kurzes Gefecht gewesen – mit einem langen und dröhnenden Nachhall: «Die Hizbollah spielt mit dem Feuer», warnte Israels Ministerpräsident Benjamin Netanyahu, nachdem es am Montagnachmittag im Grenzgebiet zwischen Israel und dem Libanon zu einer bewaffneten Konfrontation gekommen war. Zwar meldeten weder die vom Iran unterstützte Schiitenmiliz noch die israelische Armee hinterher Verletzte oder gar Tote, doch in der Region wächst die Sorge. Libanons Premierminister Hassan Diab rief zur Vorsicht, weil «ich fürchte, dass die Dinge ins Schlimmste abgleiten angesichts der hohen Spannungen an der Grenze».
Denn das Scharmützel verweist auf eine weit grössere Auseinandersetzung, in die Israel mit dem Iran und dessen Verbündeten im Libanon und in Syrien verstrickt ist. Der jüngste Zwischenfall auf den von Israel annektierten Golanhöhen wird als Reaktion der Hizbollah auf einen Israel zugeschriebenen Luftangriff in der Nähe von Damaskus eine Woche zuvor gewertet. Dabei war offenbar neben mehreren syrischen und iranischen Kämpfern auch ein ranghohes Mitglied der Hizbollah getötet worden.
«Gleichgewicht der Abschreckung»
Als die in den Achtzigerjahren von den iranischen Revolutionsgarden in der Bekaa-Ebene gegründete Organisation offiziell den Tod von Ali Kamel Mohsen bekannt gab, war klar, dass darauf Vergeltung folgen soll. Schliesslich hatte Hizbollah-Chef Hassan Nasrallah die Losung vom «Gleichgewicht der Abschreckung» ausgegeben. 2015 zum Beispiel waren nach dem Tod von Hizbollah-Kämpfern zwei israelische Soldaten im Grenzgebiet beim Beschuss ihres Fahrzeugs mit einer Panzerabwehrrakete gestorben. Israel hat deshalb in den vergangenen Tagen seine Streitkräfte an der Nordgrenze verstärkt. Am Sonntag war Verteidigungsminister Benny Gantz zu einer Lagebesprechung mit führenden Generälen in die Grenzregion geeilt.
Als überdies Ende voriger Woche überraschend US-Generalstabschef Mark Milley in Israel landete, befeuerte dies Spekulationen, dass grössere Aktionen bevorstehen könnten. Schliesslich war Milley, so berichteten israelische Medien, zuletzt unmittelbar vor der Tötung des iranischen Generals Qassem Soleimani im Januar durch eine US-Drohne am Flughafen von Bagdad in Israel gewesen. Israel signalisierte zugleich aber, kein Interesse an einer Eskalation zu haben. Und auch Nasrallahs Stellvertreter, Scheich Naïm Qassem, sagte am Sonntag dem Hizbollah-Sender al-Mayadin, er schliesse einen Krieg mit Israel aus.
Die De-facto-Grenze überschritten
Ungeachtet dessen kam es dann am Montagnachmittag zu dem Grenzzwischenfall. Die Bewohner der Region wurden sofort aufgefordert, ihre Häuser nicht zu verlassen. Laut der israelischen Armee hatte ein bewaffnetes Hizbollah-Kommando mit drei bis fünf Kämpfern bei Har Dov, auch als Shebaa-Farmen bekannt, die sogenannte Blaue Linie überschritten, die De-facto-Grenze zwischen dem Libanon und Israel. Sie seien sofort gesichtet und unter Beschuss genommen worden und hätten deshalb den Rückzug angetreten, hiess es. Die Botschaft: Der Angriff wurde abgewehrt.
Die Hizbollah stellt den Vorfall anders dar. Zunächst berichtete al-Mayadin, dass eine Panzerabwehrrakete auf ein israelisches Militärfahrzeug gefeuert worden sei. Später bestritt die Hizbollah, dass es überhaupt zu einer Auseinandersetzung gekommen sei. Israel versuche, «einen falschen Sieg zu verkünden», und zeige nur die «extreme Angst» vor einer Vergeltung. Diese Vergeltung, so drohte die Hizbollah, werde aber «definitiv noch kommen».
Netanyahus Warnung
Von Entspannung also keine Spur. Premier Netanyahu machte sich am Dienstag persönlich zur Nordgrenze auf und verband dies mit einer weitreichenden Warnung. Er warf Hizbollah-Chef Nasrallah vor, auf dem Rücken des libanesischen Staats allein iranischen Interessen zu dienen. «Alles, was hier passiert, ist das Ergebnis des iranischen Versuchs, an unseren Grenzen militärisch Fuss zu fassen», sagte er. Niemand solle Israel herausfordern. «Wir sind auf jedes Szenario vorbereitet.»
Israel hat seit dem Kriegseintritt der Hizbollah in Syrien im Jahr 2012 Hunderte Luftangriffe auf Ziele in Syrien geflogen – acht Attacken alleine in den vergangenen zwei Monaten. Sie richten sich meist gegen Einrichtungen der iranischen Revolutionsgarden, deren dauerhafte Präsenz im Nachbarland Israel als existenzielle Bedrohung betrachtet. Der Iran sieht dagegen seine Präsenz in Syrien als «strategische Tiefe» im Kampf der Hizbollah gegen Israel. Mithilfe schiitischer Milizen hat Teheran versucht, eine Landbrücke vom Iran über den Irak und Syrien zum Libanon zu schlagen und der Hizbollah direkte Nachschubwege zu eröffnen. Jüngst vereinbarten der Iran und das Assad-Regime, Syriens Luftabwehr zu stärken.
Die Hizbollah und der Iran sind allerdings ungeachtet militärischer Erfolge in Syrien geschwächt. Der Libanon steckt in der schwersten Wirtschaftskrise seit dem Ende des Bürgerkriegs im Jahr 1990; viele Libanesen machen die Hizbollah dafür mitverantwortlich, die zwar nur 13 der 128 Parlamentssitze hält, de facto aber die Regierung kontrolliert. Zugleich erhält die Miliz nicht mehr die Summen, die Teheran noch vor wenigen Jahren überwies. Der Iran leidet selbst unter den scharfen unilateralen US-Sanktionen, dem Verfall der Ölpreise und der Corona-Epidemie, demonstriert aber zugleich Entschlossenheit. Im Zuge eines Grossmanövers beschossen Helikopter der Revolutionsgarden in der Strasse von Hormuz die Attrappe eines US-Flugzeugträgers mit Raketen.
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