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Armut im Libanon
Sogar die Reichen können sich nur noch billiges Gemüse leisten

Sie haben genug: Demonstrantinnen und Demonstranten protestieren in der Hauptstadt Beirut gegen die Regierung.
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Gebran Bassil, der von Korruptionsvorwürfen umrankte Schwiegersohn von Staatspräsident Michel Aoun und millionenschwere Ex-Aussenminister, gab den Bürgern im Juni einen gut gemeinten Rat: Statt importierten Wein zu trinken, sollten die Libanesen künftig Flaschen aus lokaler Produktion entkorken – das sei billiger und stärke zudem die heimische Wirtschaft.

Dabei hat Bassil ein Detail übersehen: Nach mehr als acht Monaten Wirtschafts-, Währungs- und Bankenkrise ist selbst die in der Region einst einzigartige Mittelschicht finanziell so ausgelaugt, dass nur noch Wasser auf den Tisch kommen dürfte: Das libanesische Pfund, vergangenen Herbst noch mit dem Kurs von 1500 zu 1 an den Dollar gekoppelt, rutscht immer weiter ab. Auf dem Schwarzmarkt kostet die US-Währung mittlerweile an schlechten Tagen 10’000 Pfund pro Dollar.

Zucker und Reis um 200 Prozent teurer

Was das bedeutet, hat der Thinktank Carnegie am Gehalt der eigentlich wohlhabenden Assistenzprofessoren der renommierten Amerikanischen Universität Beirut ausgerechnet. Noch im Herbst verdienten sie monatlich umgerechnet etwa 5000 Dollar, jetzt steht nicht einmal mehr der Gegenwert von 900 Dollar zur Verfügung – und das bei rapide steigenden Preisen. Nach Zahlen des Welternährungsprogramms sind die Kosten für Grundnahrungsmittel wie Öl, Zucker und Reis allein zwischen Oktober und Mai um 56 Prozent gestiegen. Andere Quellen sprechen von Preissprüngen von bis zu 200 Prozent.

Inzwischen passen selbst Starköche die Rezepte für ihre TV-Shows an – kein teures Rind mehr, weniger Öl, billigeres Gemüse. Für die meisten Libanesen sind jedoch selbst die neuen Zutatenlisten unrealistisch. Die Zahl der unter der Armutsgrenze lebenden Bürger ist seit Oktober von 30 Prozent auf mehr als 50 gestiegen. Nach coronabedingten Beschränkungen liessen massenhafte Insolvenzen die ohnehin schon hohen Arbeitslosenzahlen explodieren. Im Moment droht das Land in eine zweite Welle der Covid-19-Infektionen abzugleiten, was Sozialminister Ramzi Musharrafieh veranlassen könnte, seine düsteren Prognosen vom Frühjahr zu verschärfen: Bereits im April rechnete er damit, dass bald drei von vier Libanesen zum Überleben auf Hilfe angewiesen sein würden.

Wo die dringend benötigte Unterstützung herkommen soll, ist unklar. Von dem auf den Trümmern des libanesischen Bürgerkriegs errichteten Staatsgebilde ist kaum etwas übrig: Seit sich die Glaubens- und Volksgruppen 1989 auf eine Verteilung der Macht einigten, plünderten deren politische Vertreter die Institutionen, um ihre Klientel und auch sich selbst zu versorgen.

Selbst Notoperationen fallen aus

Die Folge ist ein Staat, der nicht funktioniert: Bei Stromversorgung und Müllentsorgung, im Gesundheitssektor und in der Bildung ersetzen längst private Betreiber die desolaten staatlichen Angebote. Zumindest bisher. Inzwischen aber werden sogar in Privatkliniken Medikamente knapp, selbst Notoperationen werden teils nicht mehr gemacht.

Hilfe von aussen – mit der Geber wie die ehemalige Mandatsmacht Frankreich oder Golfstaaten in der Vergangenheit den fragilen Staat kurzfristig stabilisierten – lässt diesmal auf sich warten. Der französische Aussenminister Jean-Yves Le Drian hat vergangene Woche 15 Millionen Euro versprochen, weniger als die Regierung erwartet hatte. Im Gegenzug verlangte er Reformen.

Massive Schummelei bei der Staatsbilanz

Der Glaube, dass Diabs Kabinett zu echten Veränderungen bereit und fähig ist, sie durchzusetzen, ist anderswo bereits fast versiegt: Nach monatelangen Verhandlungen über Kredite gingen Gespräche mit dem Internationalen Währungsfonds vorerst ergebnislos zu Ende.

Zumal völlig unklar ist, welche Summe das Land tatsächlich benötigt – Zentralbank und Regierung stritten zuletzt öffentlich über die Höhe des Defizits des Staates und des Finanzsektors. Wobei ein Teil des Schadens bis Mitte dieser Woche gar nicht bekannt war: Da enthüllte die «Financial Times» eine Geschichte, die an den Betrugsthriller um Wirecard erinnert: Riad Salamé, der in 27 Jahren als Chef der Zentralbank das Schneeballsystem entwarf, das bis zum Zusammenbruch Ende 2019 mit hohen Zinsen Kapital ins Land lockte, war laut internen Papieren auch bei Bilanzen sehr kreativ: Sechs Milliarden Dollar hat er sich wohl einfach ausgedacht.