Kletterpionierin Melissa Le NevéAls erste Frau meistert sie die Terrorroute
Die Route «Action Directe» in Süddeutschland gilt als Massstab für den Schwierigkeitsgrad 9a. Die 31-jährige Französin hat sie nach sechs Jahren überwunden.

Terror für die Finger, das beschreibt die Route im Frankenjura sehr gut, und das spiegelt sich auch in ihrem Namen wider. Die «Action Directe» gilt weltweit als die erste Kletterroute im Franzosengrad 9a. Benannt ist sie nach einer französischen Terrorgruppe, der Name nimmt Bezug auf die extreme Belastung der Finger.
Zweimal hat dieser Terror auch ihre Finger zerstört: Die Französin Melissa Le Nevé arbeitete insgesamt sechs Jahre an der Route in der deutschen Region Franken, bis sie sie im April 2020 als erste Frau knackte. «Als ich es geschafft hatte, war ich fast ein wenig traurig», sagt die 31-Jährige am Telefon. Rund um die Route habe sie sich eine eigene kleine Welt aufgebaut, sie lebte insgesamt mehr als ein Jahr in Franken. «Es war mehr als eine Leistung», sagt die Profikletterin. Franken mit seinen kleinen Dörfern und dem leckeren Kuchen sei ihr ans Herz gewachsen.
Sprung in ein scharfes Fingerloch
Melissa Le Nevé versprüht eine grosse Natürlichkeit. Auf Fotos und in Videos tritt sie ungeschminkt auf. Bereits ihr Lächeln wirkt kraftvoll. Sieht man sie dann erst beim Klettern, erkennt man sofort, welche Stärke in ihr steckt. Jeder Muskel ist angespannt, ihr Blick extrem fokussiert. Die Krux der Route «Action Directe» ist der Sprung direkt am Anfang. «Man muss quasi 1,20 Meter überwinden, aber da die Route 45 Grad überhängend ist, muss man nicht vertikal, sondern eher diagonal springen», sagt Le Nevé.
Die 1,67 Meter grosse Frau hängt dabei massiv überstreckt in der Route, die Spannweite zwischen ihren Füssen und Händen beträgt im Extrem 1,84 Meter. Um den Sprung zu überwinden, muss sie aus einem Einfingerloch in ein scharfes Zweifingerloch springen. Sie hält sich somit an nichts fest, muss daraus eine extreme Schubkraft über ihre Füsse und Hüfte generieren und zu einem weiteren Nichts an Griff springen. So weit die Theorie.
Le Nevé begann erst mit 15 Jahren mit dem Klettern. «Ich habe fast jeden Sport ausprobiert, bis ich zum Klettern gekommen bin», erzählt die in den Vogesen aufgewachsene Le Nevé. Erst da habe sie sich das erste Mal von einer Gemeinschaft aufgenommen gefühlt. Auch dieses Vertrauen in einen anderen Menschen habe sie fasziniert. «Wenn man mit jemandem klettert, vertraut man dieser Person sein Leben an», sagt sie. Heute sei Klettern für sie Lifestyle: reisen, tolle Kletterspots entdecken, mit Freunden unterwegs sein. Von 2014 bis 2020 verbrachte sie die Klettersaisons in Franken. Nur eine Verletzungspause von eineinhalb Jahren unterbrach diesen Prozess. Die zwei Fingerverletzungen am Ringband hatte sie sich auch in Franken zugezogen.

Die «Action Directe» befindet sich am Waldkopf im Krottenseer Forst rund zwei Stunden nördlich von München. Der Fels erinnert tatsächlich in seiner Form an einen Kopf. Unten startet der Fels kurz vertikal, dann wölbt er sich bauchig auf. Es folgen der Sprung und dann weiter 15 kräftige Züge an Zweifingerlöchern. Die Route wurde am 14. September 1991 von Wolfgang Güllich erstbegangen. Er gehörte in den Achtzigern zu den einflussreichsten Kletterern der damals noch jungen Sportart. Heute gilt die Route als Massstab für den Schwierigkeitsgrad 9a.
Um für die besonderen Anforderungen der Route an die Finger- und Armkraft besser trainieren zu können, entwickelte Güllich 1988 das Campusboard, ein Trainingsgerät, das aus leicht überhängenden Holzplatten besteht, an die horizontal Holzleisten geschraubt sind – eine Revolution im Klettertraining.
Das half auch Melissa Le Nevé. «Am Anfang habe ich den Sprung bei 50 Versuchen einmal geschafft», sagt sie. Am Ende waren es bei fünf Versuchen drei Erfolge. Der Rest der 15 Meter langen Route fiel ihr leichter, weil sie bereits sehr gute Fingerkraft besass. Die Schwierigkeit der Route bestimmt sich aber erst durch die Kombination aller Einzelparts, die bei «Action Directe» vor allem für kleinere Personen und speziell Frauen eine grosse Herausforderung darstellt.
Vor Melissa Le Nevé schafften es 25 Männer, darunter der Ausnahme-Franke Alexander Megos und der Tscheche Adam Ondra, der als stärkster Kletterer der Welt gilt. Le Nevé hatte sich vor die grosse Aufgabe gestellt, die Route «für den Frauenkörper zu adaptieren».
Es war fast schon Besessenheit
Auch aufgrund dessen hatte Melissa Le Nevé Respekt vor der Aufgabe. Sie war in der Zeit die Einzige, die aktiv an der Route arbeitete, und stand unter Beobachtung. «Ich hatte ziemlich viel Druck auf meinen Schultern», sagt sie. Dass es vor ihr keine andere Frau geschafft hatte, habe ihrer Meinung nach auch daran gelegen, dass die Kletterinnen nicht daran interessiert waren, so explizit an dem Sprung zu arbeiten.
Ihren Prozess an der Route beschreibt sie als «Liebesaffäre»: «Das war ein Auf und Ab, wie eine Achterbahn der Gefühle», sagt sie. «Als ich dann schon tief drin war und einige Zeit investiert hatte, gab es kein Zurück mehr.» Sie habe nur noch an die Route gedacht. Es sei fast schon Besessenheit gewesen. Um den Sprung auch im Winter trainieren zu können, vermass sie die Route und baute sie zu Hause in Frankreich nach. Und trainierte.
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Auf die Frage, woher sie die Motivation nehme, folgt eine Pause, dann ein kurzes Lachen. «Ich stelle mir selbst gerne Herausforderungen und setze mir Ziele», sagt sie. Irgendwann fange sie an, eine Route «unters Mikroskop» zu nehmen, um herauszufinden, was man anders machen muss, um genau diesen einen Zug zu schaffen.
Die «Action Directe» hat sie durch ihre Beharrlichkeit geknackt. Das nächste Projekt steht auch schon an: die Route «Biographie» in Ceüse, Frankreich. Sie weist den Schwierigkeitsgrad 9a+ auf – das ist noch einmal eine Steigerung.
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