Debatte um NobelpreisträgerinAlice Munro blieb beim Mann, der ihre Tochter missbrauchte
Die Tochter der kanadischen Short-Story-Königin erzählt acht Wochen nach deren Tod vom jahrelangen Missbrauch durch Munros zweiten Mann. Alice Munro hielt zu ihm – wie kann man sie heute lesen?

In ihrer allerletzten Kurzgeschichtensammlung, «Dear Life» (2012), war die kanadische Literaturnobelpreisträgerin Alice Munro autobiografischer unterwegs als je zuvor, wie sie selbst erklärte. Eine der Figuren dort bekennt, dass keine Lügen «so stark» seien «wie die Lügen, die wir uns selbst erzählen und dann leider unglücklicherweise immer weiter erzählen müssen». Einer anderen Erzählerinnenfigur legt Munro in den Mund: «Wir sagen von manchen Dingen, dass wir sie uns nie verzeihen werden. Aber wir tun es – wir tun es immerfort.»
Seit ein paar Tagen haben solche Sätze aus dem Werk der im Mai verstorbenen Schriftstellerin einen anderen Beiklang. Denn am letzten Sonntag erschien in der Zeitung «Toronto Star» ein Essay ihrer jüngsten, 1966 geborenen Tochter Andrea Skinner mit der Überschrift: «Mein Stiefvater hat mich sexuell missbraucht, als ich ein Kind war. Meine Mutter, Alice Munro, entschied sich, bei ihm zu bleiben.»
Im Schatten der literarischen Ikone hätten Familie und Umfeld das Geheimnis jahrzehntelang gehütet. Doch jetzt sei es Zeit für die Wahrheit.
Mit 25 schrieb Andrea der Mutter einen Brief
Die Wahrheit ist: 1976, als Andrea Skinner mit neun Jahren bei ihrer Mutter und ihrem frisch eingeheirateten Stiefvater Gerald Fremlin zu Besuch war – normalerweise lebte sie bei ihrem Vater und dessen neuer Partnerin –, stieg der 52-jährige Fremlin eines Nachts zu ihr ins Bett und missbrauchte sie. Am nächsten Morgen erwachte das Mädchen mit seiner allerersten Migräne. Diese sollte sich über die Jahre zu einem quälenden Leiden chronifizieren und von Schlaflosigkeit und Bulimie begleitet werden.

Es blieb nicht Fremlins einziger Übergriff. Bis Andrea ein Teenager war, habe ihr Stiefvater sie mit verbalen Avancen und Zoten verfolgt, ihr seine sexuellen Fantasien über Nachbarskinder geschildert und sich vor ihr entblösst. Erst mit 25 Jahren hat Andrea ihrer Mutter in einem Brief von den Vorfällen berichtet.
Aber deren Reaktion war kein Trost, sondern fiel so aus, wie die Tochter befürchtet hatte: Alice Munro habe sich völlig auf die eigene Verletzung durch die Untreue konzentriert und ausserdem nicht glauben wollen, dass solche Erlebnisse schlimme Folgen hätten. Stattdessen habe sie von anderen Kinder-«Freundschaften» ihres Mannes erzählt.
Der Stiefvater gab der Neunjährigen die Schuld
Die berühmte Autorin trennte sich zwar für ein paar Monate von Fremlin, der seine Taten in Briefen eingestand. Allerdings gab er der angeblich «Lolita-artigen» Neunjährigen, die «sexuelle Abenteuer» gesucht habe, daran die Schuld und drohte mit der Veröffentlichung «vielsagender» Fotos der kleinen Andrea in Unterwäsche. Bald kehrte Munro zu ihm zurück und harrte bis zu dessen Tod 2013 an seiner Seite aus.
Skinner schreibt im «Toronto Star», Munro habe zu ihrer Verteidigung angeführt, man habe sie viel zu spät informiert, auch liebe sie Fremlin zu sehr. Überhaupt sei es misogyn, wenn die Tochter von ihr erwarte, dass sie ihre eigenen Bedürfnisse für ihre Kinder opfere und die Fehler der Männer repariere. «Sie bestand darauf, dass das, was passiert ist, nichts mit ihr zu hat», schreibt Skinner weiter. «Hat sie wahrgenommen, dass sie zu einem Opfer sprach und dass ich ihr Kind war? Wenn ja, so konnte ich es nicht spüren.»
Die Familie schaute, «dass das Schweigen weiterging»
2002 teilte Andrea ihrer Mutter mit, dass Kontakte künftig schwierig würden, denn sie könne ihre eigenen Kinder nicht in die Nähe Fremlins lassen – was zu Andreas Entfremdung mit der Familie führte. Die Grenze der Belastbarkeit war für Skinner erreicht, als Alice Munro in einem weithin gelesenen Interview von Fremlin als Ritter in ihrem Leben schwärmte. Andrea Skinner ging zur Polizei, und Fremlin wurde wegen der sexuellen Übergriffe angeklagt. Besagte Briefe belegten seine Taten, und 2005 bekannte er sich vor Gericht schuldig. Er wurde zu zwei Jahren Haft auf Bewährung verurteilt und zu einem Kontaktverbot mit Kindern unter 14.
Dennoch hielt Alice Munro zu ihm. Und der Rest der Familie schwieg, so wie er geschwiegen hatte, als die Neunjährige traumatisiert von den Ferien bei ihrer Mutter heimgekehrt war und der leibliche Vater Jim Munro vom Missbrauch erfuhr.
«Der Ruhm meiner Mutter bedeutete, dass das Schweigen weiterging», sagt Skinner. Leute aus der Literaturszene schützten den kanadischen Kurzgeschichtenstar ebenfalls. Robert Thacker beispielsweise wusste schon vor der Publikation seiner 700-seitigen Munro-Biografie (2005) von den Vorfällen und entschied sich bewusst dagegen, sie einzubauen und «eine schlechte Situation schlimmer zu machen», wie er sich nun vor Journalisten rechtfertigt. Auch in die überarbeitete Ausgabe von 2011 nahm er die Geschehnisse nicht auf, es handle sich um Privatangelegenheiten.
Wie kann man die Texte heute lesen?
Alice Munros Texte sind für ihren scharfsichtigen Blick auf harte Frauen- und Kinderschicksale gefeiert worden. Für ihre unsentimentale Schilderung von Alltagsdramen in den Kleinstädten Ontarios, voller latenter und offener Gewalt. Für ihren wortkargen Stil, ihren Mut zu Auslassungen. Im glamourtrunkenen Literaturbetrieb fiel Munro auf als jemand, der lieber nicht auffällt. Zur Nobelpreisübergabe reiste sie nicht.
Man verehrte sie dafür geradezu als Heilige: «Alice war immer eine Art Saint Alice», bekräftigt ein renommierter kanadischer Literaturjournalist. Man hob sie bis in den Himmel und stellte keine Fragen, als sie sich, entgegen früherer Pläne, nicht neben Fremlin begraben liess.
Jetzt zeigt sich die Literaturszene geschockt, man bemüht sich, Munros Verhalten zu verstehen. So zitiert die «New York Times» Margaret Atwoods («The Handmaid’s Tale») Einschätzung: «Ich denke, sie gehörten zu einer Generation, in der man Dinge unter den Teppich kehrte.»
Aus Munros Geschichten werden Beichten
Andrea Skinner hat inzwischen viel Solidarität erfahren, auch von ihren Geschwistern, die diesen Teil der Wahrheit über ihre Mutter endlich und dringend bekannt machen wollten. Zu Munros Lebzeiten habe man nicht wie ein Ikonenstürzer dastehen wollen. Die literarische Grösse ihrer Mutter bleibe trotzdem unbestreitbar, unterstreicht Munros älteste Tochter Sheila.
Manche stimmen dem zu, aber ganz so einfach ist es nicht; man erinnert sich an die Debatten rund um Michael Jackson oder Rammstein. Romancière Rebecca Makkai zum Beispiel sagt in der «New York Times», dass sich viele der Kurzgeschichten nun wie halbfertige Beichten läsen. «Für mich macht sie das ganz und gar unlesbar.»
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