Abwarten, was der Abwart macht
Arno Camenisch schreibt eher lange Porträts als kurze Romane. Sein neues Buch «Herr Anselm» ist wieder so eines.
Seit 33 Jahren ist Herr Anselm Schulhausabwart. Aber gleich am ersten Schultag nach den langen Sommerferien wird klar: Er hat bloss noch eine Anstellung auf Zeit. In der Gemeinde hat es zu wenig Kinder. Die Schule soll geschlossen werden. Er, der Abwart, der auch mal als Lehrer-Ersatz einspringt, wird überflüssig werden. Etwas Schönes geht zu Ende.
Die Schule, um die es geht, steht irgendwo im Vorderrheintal, in der Surselva. Wo genau, wird nicht gesagt. Aber weil es Arno Camenisch ist, der sich diese Figur ausgedacht hat, steht das fest. Denn Camenisch denkt sich immer Geschichten aus, die in der Surselva spielen, liegen seine eigenen Wurzeln doch dort.
Wobei das Wort Geschichten den Kern der Sache nicht trifft. Ob «Die Kur» oder zuletzt «Der letzte Schnee»: Worauf sich der 41-jährige Bündner Schriftsteller aus Tavanasa spezialisiert hat, sind im Grunde lange Porträts.
Es passiert nichts
Das ist auch im Fall von «Herr Anselm» so. Es passiert nichts. Herr Anselm steht am Grab seiner Frau und berichtet in einer Art innerem Monolog darüber, was ihn gerade beschäftigt. Und was er vom Leben gelernt hat.
Das fügt sich dann zu Einsichten und Weisheiten wie «dass es eben nicht die Talentiertesten sind, die ihren Weg gehen, sondern die, die sich um ihre Schwächen bewusst sind». Oder: «Das Glück muss man herausfordern, sonst findet es einen nicht, das Unglück findet dich immer, aber das Glück findet dich eba nur, wenn du dich ihm zeigst…» Könnte auf einem Kalenderblatt stehen.
Es ist ein Muster, das sich bei Herrn Camenisch eingeschliffen hat. Inklusive des Bündner Dialekteinschubs, der sich eba schon noch gut macht, wenn man den Text nur dezent genug damit sprenkelt und nicht allzu dick aufträgt. Da heisst es dann von der Lehrerin Tante Tresa, sie sei «pfiffagrad» gewesen, und schon auf der neunten Zeile ist von «farruct» guten Nachrichten die Rede.
Wir wagen es zu sagen, dass dem eingeschliffenen Camenisch-Muster die Überraschungskraft abgeht.
Nimmt man die drei letzten Bücher von Camenisch zusammen, ist das Muster noch offensichtlicher: ältere, durchs Leben gegangene und gegängelte Protagonisten, die auf das Erlebte zurückblicken und anhand von Episoden und Erinnerungsfetzen berichten, was ihnen das Dasein gebracht hat. Freud und Leid, Scherz und Schmerz.
Wenn dann dieser Herr Anselm beschrieben wird – für diese Aussenperspektive verwendet Camenisch nur ganz, ganz wenige Sätze –, wie er in seinem blauen Übergwändli und mit dem Besen auf dem Schulhof steht, dann fällt einem Emils Nummer mit dem Garderobenmann ein, der im blauen Übergewand und mit Besen auf die Bühne tritt und ganz schlicht, ganz naiv, das ganz Grosse zu erklären versteht. Oder Robert Walsers Jakob von Gunten, wie er von unten nach oben blickt und das Leben in einfachen Bildern in seiner ganzen Komplexität zu deuten versteht.
Nur: Eine Geschichte ist das nicht. Was aus der Schule wird und wie es mit dem Dorf weitergeht, bleibt im Buch offen. Dabei weiss doch dieser Herr Anselm selbst eigentlich ganz genau, wie gut eine Geschichte ankommt, auch bei den grossen Schülerinnen und Schülern. Denn genau das beschreibt er. Da hat er mal wieder einspringen müssen als Didakt. «Dann sitzen sie da mit grossen Augen», denn «die Grossen haben auch gern Geschichten, sep scho, aber ab einem gewissen Alter getrauen sie sich nicht mehr zuzugeben, dass sie Geschichten lieben...»
Neues ist da nicht
Wir trauen uns das schon. Aber wir wagen es auch zu sagen, dass dem eingeschliffenen Camenisch-Muster die Überraschungskraft abgeht. All diese Menschen wirken wie Varianten des immer Gleichen. Die Sprache ist ähnlich, der Duktus ist ähnlich, die Mentalität und das Temperament sind es auch.
Ein Schriftsteller, der stets auf Bewährtes setzt, erreicht hohe Wiedererkennbarkeit. Man weiss, was man an ihm und seinen Büchern hat. Man weiss, Neues ist da nicht.
Arno Camenisch: Herr Anselm. Engeler, Basel 2019. 100 S., ca. 27 Fr.
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