Experten zur Kriegsrhetorik «Dann könnte Putin angreifen, obwohl das nicht sein Plan war»
Mindert das ständige Reden der Amerikaner von einem Angriff die Kriegsgefahr? Oder bringt es die Russen in Bedrängnis? Zwei Konfliktforscher analysieren die Kommunikation der Konflikparteien.
Es vergeht im Moment kaum ein Tag ohne neue Meldungen zu einem drohenden Krieg in der Ukraine. Vor zwei Tagen kündigten die Amerikaner an, der Angriff der Russen erfolge heute Mittwoch. Worte sind im Krieg eine mächtige Waffe, und auch im Vorfeld von Konflikten verfehlen sie ihre Wirkung nicht. Die Frage ist, ob Kriegsrhetorik dafür sorgt, dass sich beide Seiten hochschaukeln, oder ob sie auch dazu beitragen kann, Konflikte zu entschärfen.
«Kriegsrhetorik spielt in diesem und eigentlich in den meisten Konflikten eine sehr wichtige Rolle», sagt Lars-Erik Cederman, Professor für Konfliktforschung an der ETH Zürich, «und sie bleibt nicht ohne Wirkung.» Die Amerikaner versuchen derzeit mit ihrer offensiven Kommunikationsstrategie, eine Nacht-und-Nebel-Aktion der Russen zu verhindern. Denn 2014 besetzten mysteriöse Truppen, die zu Beginn des Konflikts keine klar identifizierbaren Uniformen trugen, aber im Auftrag Russlands handelten, die Halbinsel Krim. Doch beschwört, wer ständig von Krieg spricht, einen Angriff nicht auch herauf?
Wer blufft, wird nicht ernst genommen
«Abschreckende Kriegsrhetorik ist ein sehr gefährliches Spiel», sagt Cederman. Einerseits muss sie, um glaubwürdig zu wirken, ein Mindestmass an Härte signalisieren. Also mit drastischen Folgen drohen, wenn das Gegenüber eine rote Linie überschreitet. Das wäre im Fall Russlands beispielsweise das Blockieren der Zahlungssysteme. Eine Massnahme, die auch die globale Wirtschaft und den Westen hart treffen könnte. «Bluffen sollte man dabei nicht», sagt Cederman. Denn wer nur blufft, verliert schnell die Position als ernst zu nehmendes Gegenüber.
Während des Kalten Krieges war Abschreckung lange die Hauptdoktrin zwischen Ost und West. Sie sicherte zwar den Frieden. «Aber das Riskante ist, dass es zu keinerlei Missverständnissen kommen darf», wie es sie beispielsweise in der Kubakrise von 1962 beinahe gegeben hätte. Damals kam die Welt einem Atomkrieg sehr nahe. Glasklare Kommunikation und diplomatisches Geschick seien deshalb unerlässlich, aber anspruchsvoll.
Riskant ist es, wenn sich eine Seite durch die abschreckende Rhetorik in die Ecke gedrängt fühlt. «Wenn Putin in der aktuellen Krise beispielsweise keine Möglichkeit mehr sieht, die Truppen an der Grenze zurückzuziehen, ohne dabei das Gesicht zu verlieren», sagt Cederman, «dann könnte er angreifen, obwohl das ursprünglich nicht sein Plan war.» Weil sich Putin gern als «starker Mann» inszeniere, sei es in der Rhetorik umso wichtiger, ihn nicht in eine Ecke zu drängen, sondern immer noch einen Ausweg zu bieten.
«Die Kommunikationsstrategie der Amerikaner hilft im Moment den Russen.»
Die Situation ist im Moment vor allem eines: unberechenbar. Auch die Modelle aus der Konfliktforschung und der politischen Theorie würden nur bedingt greifen. «Es ist eine völlig ungewohnte Situation», sagt der ukrainische Politologe Sergiy Kudelia. «Kriege finden normalerweise nicht mit einer so langen Vorankündigung statt.» Kudelia ist als Gastdozent an der Universität Basel tätig.
Beunruhigend findet der Politologe den Abzug des diplomatischen Personals aus dem Land. «Das geschieht selten, der Entscheid dazu muss auf Geheimdienstinformationen basieren», sagt Kudelia. Die Stimmung in der Ukraine stehe allerdings in völligem Gegensatz zu dieser Entwicklung. «Ich war bis vor kurzem selbst im Land, meine Freunde sehen keine Anzeichen in ihrem Alltag, dass bald ein Krieg beginnt.» Niemand könne sich in der Ukraine wirklich vorstellen, dass es zu einem grossen Einmarsch der Russen komme, eher zu lokal begrenzten Scharmützeln im Donbass-Gebiet.
«Die Kommunikationsstrategie der Amerikaner hilft im Moment den Russen», sagt Kudelia. Sie stellten die Äusserungen der USA als Drohungen dar, um der eigenen Bevölkerung zu verkaufen, dass es der Westen sei, der im Moment auf eine Eskalation hinwirke. «Dabei soll es so wirken, als ob die Amerikaner sogar Fake News verbreiten, weil sie Angriffe ankündigen, die dann gar nicht stattfinden.»
Als bedrohlicher schätzt Kudelia die Truppenverschiebungen der Amerikaner in Nato-Länder im Osten ein. «Worte sind das eine, aber wenn sie begleitet sind von der Stationierung von Soldaten, wirken sie eskalierend.» Für dieses Szenario gäbe es historische Beispiele wie die Vorgeschichte des Ersten Weltkriegs. Warnungen und Drohungen gingen 1914 hin und her, als Folge rüsteten Ost wie West auf. «Irgendwann ist es dann im Beispiel des Ersten Weltkriegs nur noch die Frage, wer als Erstes angreift», sagt Kudelia.
Entscheidend ist bei der Wahl der rhetorischen Strategie immer auch das Gegenüber. «Abschreckung kann nur funktionieren, wenn das Gegenüber mit rationalen Argumenten erreichbar ist», sagt Konfliktforscher Cederman. Wenn man einem Hitler begegne, dann nütze nur Härte. Wie die Geschichte gezeigt hat, war die Appeasement-Politik, die England 1938 gegenüber den Nationalsozialisten verfolgte, ein fataler Fehler. «Aber Putin ist kein Hitler. Er zeigt zwar Anzeichen von paranoiden Zügen und von faschistischen Ideen, er ist aber trotzdem ein sehr berechnender Mensch.»
Ein bewaffneter Konflikt im grossen Stil würde auch die Menschen in Russland hart treffen. «Doch Politiker handeln, wie wir wissen, nicht immer im nationalen Interesse, sondern haben viel häufiger eine persönliche Agenda», sagt Cederman. Die nationalistische Karte zu spielen und damit an die Emotionen der Landsleute zu appellieren, sei in diesem Zusammenhang eine altbewährte Strategie.
Es gehe Putin vor allem darum, den Westen zu spalten und für seine vermeintliche Überheblichkeit zu strafen, ist Cederman überzeugt. Die Spaltung gelingt auch in der aktuellen Situation. Während die Amerikaner und die Briten stärker auf Kriegsrhetorik setzen, pochen Deutschland und Frankreich auf Diplomatie. «Putin verfolgt diese Strategie schon länger, indem er Trump und rechtsextreme Strömungen in verschiedenen Ländern unterstützt, Cyberattacken anstiftet oder Flüchtlingsströme an die EU-Grenze kanalisiert», sagt Cederman. «Er ist vor allem sehr gefährlich, weil er unseren westlichen demokratischen Lebensstil bedroht.»
«Es ist jetzt entscheidend, sehr geschickt zu verhandeln.»
Sehr schwierig ist es, eine klare Antwort zu finden, welche rhetorische Strategie bei der Nato-Ost-Erweiterung momentan die Beste wäre. Die Ukraine sei ein souveränes Land und sollte selbst über ihre Sicherheitspolitik entscheiden können, sagen die einen. Andere haben Verständnis dafür, dass sich Russland bedroht fühlt, wenn die Nato sich bis zur russischen Grenze ausdehnt. «Zwischen diesen beiden Positionen gibt es eigentlich keinen Kompromiss», sagt Politologe Kudelia.
«Es ist jetzt entscheidend, sehr geschickt zu verhandeln und für kreative Lösungen offen zu bleiben», sagt Cederman. Das heisse, hinter verschlossenen Türen gewisse Zugeständnisse zu machen, aber sich trotzdem nicht erpressen zu lassen. Was im Moment ein bisschen nach einer Mission Impossible klingt. «Putin will lieber eine kaputte Ukraine als ein Land, das sich in seiner unmittelbaren Nachbarschaft dem Westen anschliesst.» Die Ukraine habe das Pech, als Land geografisch zwischen den Fronten zu liegen. Sie sei eine Pufferzone der Weltgeschichte, wie es schon der US-Historiker Timothy Snyder in seinem Bestseller «Bloodlands» 2010 formulierte.
«Ich rechne nicht mit einem Angriff am Mittwoch oder in den nächsten Tagen», sagt Kudelia. Die Gefahr sei jedoch keineswegs gebannt. Das russische Parlament hat am Dienstag beschlossen, die Unabhängigkeit der beiden Provinzen Donezk und Luhansk im Osten der Ukraine offiziell anzuerkennen. Putin hat nun 30 Tage Zeit, um diesen Entscheid zu bestätigen. Tut er das, steigt die Kriegsgefahr weiter.
«Das Minsker Abkommen würde mit dieser offiziellen Anerkennung hinfällig, und es gäbe dann keinen Rahmen mehr für Verhandlungen», sagt Kudelia. «Deutschland und Frankreich werden deshalb nun Druck auf den ukrainischen Präsidenten Selenski ausüben, um den Provinzen von sich aus Autonomie zu geben, damit Putin das nicht tut.» Obwohl ein solcher Schritt den Nato-Beitritt in naher Zukunft verunmöglichen würde.
«Die ukrainische Bevölkerung ist einer neutralen Position zumindest in Teilen nicht abgeneigt, es sind vor allem die Eliten, die eine Anbindung zum Westen wünschten», sagt Kudelia. Cederman hat im Moment vor allem einen Wunsch: «Bei allen Drohungen hoffe ich, dass die diplomatischen Drähte hinter den Kulissen jetzt heiss laufen.» Zu viel stehe auf dem Spiel.
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