Abfahrt in KvitfjellEine 21-Jährige verblüfft die Ski-Welt – Gut-Behrami hätte lieber früher abgeschwungen
In Norwegen gewinnt Emma Aicher erstmals ein Weltcuprennen. Derweil lag die Tessinerin super im Rennen. Bis kurz vor Schluss.

Es ist eine Szene, die dafür steht, was an diesem Tag in Kvitfjell passiert. Für diese frische Bise, die im hohen Norden durch die Welt der Abfahrerinnen weht.
Lauren Macuga hat sich vom roten Sessel erhoben, dem Thron der Leaderinnen, auf dem sie zuvor sattelfest gesessen ist. Denn auf der Olympia-Piste von 1994 ist sie unterwegs: Emma Aicher, 21-jähriges Grosstalent, mitunter Ski-Juwel genannt. Dann kommt die Deutsche ins Ziel und gelingt ihr tatsächlich das Kunststück: Sie ist noch einmal drei Hundertstel schneller als Macuga. Diese schlägt die Hände so sehr zusammen, dass ihr beinahe der Fischerhut vom Kopf fliegt, den sie im Zielraum jeweils mit unterschiedlichen Motiven trägt – diesmal zieren ihn die Farben der US-Flagge.
So steht sie also da, die 22-jährige quirlige Amerikanerin, mit offenem Mund und schrägem US-Hut, und staunt über die noch einmal ein Jahr jüngere Frau, die im Ziel ihre Arme in die Höhe streckt. Aicher doppelt nach Rang 2 am Vortag – ihrem ersten Podestplatz im Weltcup überhaupt – nach und gewinnt erstmals ein Rennen auf höchster Stufe. Macuga, die Sensationssiegerin des Super-G von St. Anton, wird Zweite.
Es ist ein starkes Zeichen der jüngsten Generation an Abfahrerinnen Richtung routinierter Garde um Cornelia Hütter, die Dritte wird, um Sofia Goggia, Lara Gut-Behrami oder Speed-Queen Lindsey Vonn. Die Amerikanerin, die auf diese Saison hin zurückgekehrt ist auf die Ski-Bühne und an diesem Samstag 16. wird, ist mit ihren 40 Jahren alleine fast so alt wie die beiden jungen Athletinnen auf dem Podest zusammen.
Nur beim Reden leicht unsicher
Doch bis auf das Alter verbindet Aicher und Macuga nur wenig. Die Deutsche hält nicht allzu viel von Show und Unterhaltung, in Gesprächen bleibt sie stets nüchtern, das ist selbst jetzt so, im grössten Moment ihrer bisherigen Karriere. «Ich kann das alles noch nicht ganz realisieren, schon nur den 2. Rang vom Freitag, das kommt dann irgendwann mal», sagt sie. Und: «Aber ich bin sehr froh.» Dann spricht sie noch von einem «riesengrossen Traum», der in Erfüllung gehe, so viel der Emotionen muss dann schon sein, «dafür arbeiten wir die ganze Zeit».
Während Aicher redet, schwingt ein Singsang mit, der typischerweise dann zu hören ist, wenn Däninnen, Schwedinnen oder Norwegerinnen Deutsch reden. Und als Aicher beim ZDF gefragt wird, wie die Gegnerinnen reagiert hätte, sagt sie: «Sie haben mir gratuliert und gesagt, es sei nur eine Frage der Zeit gewesen. Sagt man das überhaupt so? Eine Frage der Zeit?»
Der Grund für die leichte sprachliche Unsicherheit ist simpel: Aichers Mutter ist Schwedin, der Vater Deutscher. Aicher ist zusammen mit ihrem jüngeren Bruder in Sundsvall an der schwedischen Ostküste aufgewachsen. Als Juniorin fährt sie unter schwedischer Flagge. Das tut sie auch noch, als die Familie nach Engelberg zieht, wo sie mehrere Jahre lebt. Schliesslich siedeln die Aichers 2020 nach Deutschland um. Emma Aicher besucht das Skiinternat Berchtesgaden und startet ab der Saison 2020/21 für Deutschland. Zudem ist sie wie viele Sportlerinnen bei der Bundeswehr als Sportsoldatin angestellt.
Aicher ist die Einzige, die alles fährt
Und ja, der Spruch der Konkurrentinnen kommt nicht von ungefähr: Es war nur eine Frage der Zeit, bis diese Emma Aicher zum ganz grossen Coup ansetzen würde. Dass sie die grosse Hoffnungsträgerin des Deutschen Skisports ist, ist schon auf ihrem Kopf zu sehen. Zumindest wenn sie Helm oder Mütze trägt. Darauf prangt seit Jahren das Logo von Red Bull, bekannt dafür, die grössten Talente früh zu erkennen und unter Vertrag zu nehmen.
Die Scouts des Energydrink-Herstellers haben sich auch in Aichers Fall nicht getäuscht. Nur etwas kommt überraschend an diesem so wunderbaren Wochenende für die junge Deutsche, die am Sonntag auch den Super-G bestreiten wird: Dass sie ausgerechnet in der Abfahrt ihre ersten ganz grossen Momente erlebt.
Seitdem sich Michelle Gisin in diesem Winter entschied, keine Slaloms mehr zu fahren, ist Aicher die einzige Skifahrerin überhaupt, die sämtliche Disziplinen bestreitet. Und bislang hat sie vor allem im Slalom geglänzt, wo sie es schon sechsmal in die Top 10 geschafft hat, jüngst auch in Sestriere als Sechste. Nun also schlägt sie in der Abfahrt so richtig zu – und gleich die ganze Elite.
Gut-Behrami und der Fehler vor dem Ziel
Auch Gut-Behrami, die auf Rang 8 und damit direkt vor Teamkollegin Corinne Suter landet. Die Tessinerin ist damit erneut die beste Schweizerin. Wäre ihr beim letzten Sprung kurz vor dem Ziel nicht noch ein grosser Fehler unterlaufen, nach dem sie weit ausserhalb der Ideallinie landete, wäre noch deutlich mehr möglich gewesen für die 33-Jährige. «Ich habe dort eine halbe Sekunde liegen lassen. Mir wäre lieber gewesen, das Rennen wäre bei der letzten Zwischenzeit zu Ende gewesen», sagt sie gegenüber SRF mit einem Schmunzeln. Wäre das der Fall gewesen, Gut-Behrami wäre Zweite geworden.
So aber, mit den Rängen 12 am Freitag und 8 am Samstag verabschiedet sie sich wohl endgültig aus dem Rennen um den Sieg im Disziplinenweltcup. Gut-Behrami liegt nun auf Rang 5 des Abfahrtsklassements, derweil sich der Kampf um die kleine Kristallkugel zwei Rennen vor Schluss zuspitzt. Federica Brignone, die Vierte wird, führt noch mit 16 Punkten vor Hütter. 18 Punkte hinter der Österreicherin liegt Goggia, die sich mit Rang 6 zufrieden geben muss – und wie alle Granden dieses Sports nur Zuschauerin ist beim Spektakel, das die neue Generation an diesem Tag vollführt.
9 Federica Brignone
Und schon ist die nächste Fahrerin unterwegs, die um die kleine Kristallkugel für die beste Abfahrerin kämpft. Brignone, die auch im Gesamtweltcup führt, ist ebenfalls ein klein wenig schneller als Macuga bei der letzten Zwischenzeit. Und auch der Italienerin reichts nicht zur Führung: Rang 3 mit drei Zehnteln Rückstand.
8 Cornelia Hütter
Die Siegerin vom Freitag ist gestartet. Und auch sie ist etwas schneller unterwegs als Macuga, 14 Hundertstel sind es noch kurz vor dem Ziel. Doch auch ihr reicht es nicht zur Führung. Macuga ist ein perfekter Schlussteil gelungen. Sie führt jetzt vor der Österreicherin, die 16 Hundertstel zurückliegt.
7 Laura Pirovano
Die Italienerin ist pfeilschnell unterwegs, liegt bei jeder Zwischenzeit vor Macuga – und im Ziel knapp zurück. Pirovano ist jetzt Zweite mit 31 Hundertsteln Rückstand.
6 Breezy Johnson
Es geht weiter, und das mit der Abfahrtsweltmeisterin von Saalbach. Am Vortag hat sie ihren Titel mit Rang 3 bestätigt. Heute ist sie gegen ihre Teamkollegin Macuga chancenlos: Rang 2 mit 59 Hundertsteln Rückstand.
Lauren Macuga
Auf dem Leaderthron strahlt weiter Lauren Macuga. Mittlerweile hat sie sich einen ihrer vielen Fischerhüte auf den Kopf gesetzt – in den Farben ihrer Heimat USA.

5 Kira Weidle-Winkelmann
Die Deutsche ist am Vortag Zehnte geworden – und damit nur Zweitbeste ihres Teams. Denn Emma Aicher hat gestern mit Rang 2 verblüfft. Es war der erste Podestplatz für die erst 21-Jährige.
Weidle-Winkelmann ist ganz gut unterwegs. Doch dann gerät sie in Rücklage und fliegt ab. Die 29-Jährige durchbricht das erste und das zweite Netz – und schlittert dann zwischen dem zweiten und dem dritten Netz den Hang hinunter. Sie hebt die Arme, offenbar ist sie unverletzt. Das Rennen ist natürlich unterbrochen.
4 Nicol Delago
Die nächste Italienerin ist unterwegs und versucht nun, die Zeit von Macuga zu knacken. Delago schlägt sich auf der fordernden Piste ganz wacker. Für die Führung reicht es aber nicht: Rang 3 mit 95 Hundertsteln Rückstand.
3 Lauren Macuga
Die Amerikanerin ist erst 22 und glänzte in dieser Speed-Saison schon mehrmals. In St. Anton gewann sie gar den Super-G. Auch mit der Olympia-Piste von 1994 kommt sie gut zurecht. Macuga ist noch einmal schneller als Stuhec, und zwar gleich um 73 Hundertstel.
2 Ilka Stuhec
Die Slowenin, Abfahrtsweltmeisterin von 2017 und 2019, überzeugte am Freitag mit Rang 7 – es war das beste Saisonergebnis der 34-Jährigen. Nun setzt sie sich erst einmal an die Spitze des Rennens, ihr Vorsprung auf Curtoni: 1,02 Sekunden.
1 Elena Curtoni
Die Italienerin eröffnet das Rennen. Das Licht ist etwas diffuser als noch am Vortag, als die Sonne schien. Curtoni setzt eine erste Richtzeit: 1:33,47 Minuten. Zum Vergleich: Die Siegerzeit von Cornelia Hütter am Freitag betrugt 1:31,46 Minuten.
Herzlich willkommen
Im norwegischen Kvitfjell steht die zweite Abfahrt an. Und die Schweizerinnen sind auf Wiedergutmachung aus. Am Freitag war Lara Gut-Behrami als Zwölfte die Beste ihres Teams, gefolgt von Corinne Suter auf Rang 14. Gut-Behrami und Suter sind auch die ersten Schweizerinnen, die starten. Sie tragen die Nummern 11 und 12.
Zu den Topfavoritinnen gehören auf der Olympia-Piste von 1994 aber andere, allen voran die Österreicherin Cornelia Hütter, die am Vortag gewann und bereits beim Speed-Auftakt in Beaver Creek siegte. Auch Weltmeisterin Breezy Johnson und Draufgängerin Sofia Goggia dürften um den Triumph mitfahren.
In der drittletzten Abfahrt des Winters geht es auch schon um den Kampf in der Disziplinenwertung. Drei Fahrerinnen liegen an der Spitze dicht beieinander: Federica Brignone führt mit 334 Punkten vor ihrer italienischen Landsfrau Sofia Goggia (310) und Hütter (308). Gut-Behrami folgt auf Rang 4 mit 197 Punkten.
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