640 Seiten Wut
In ihrem grandiosen neuen Buch legt Sibylle Berg Spreng-Sätze in eine Zukunft künstlicher Intelligenz.
Vorsicht, bissiges Buch. Der Schauplatz: London, irgendwann bald. Kinder verrotten in Kellerwohnungen. Hass. Ihre Mütter saufen das Elend nieder und prostituieren sich bei reichen Russen. Die Väter sind längst abgehauen. Kommen nur noch zurück, um sich die Frau vorzunehmen und die Kinder zu verprügeln. Hass. Die Männer sind arbeitslos, frauenlos, nutzlos und wütend. Die Frauen sind Nutten am Rande des Nervenzusammenbruchs. Hass, Hass. SM-Fetischisten, Kinderschänder, Rechtsextremisten. Und Hass, Hass, Hass. Was ist da los?
Sibylle Berg ist los. Gnadenlos, rücksichtslos, grandios über weite Strecken. 640 Seiten Wut, eispickelharte Gesellschaftskritik. Gegen den entfesselten Kapitalismus setzt die Autorin ihre entfesselte Fantasie. Sie sagt voraus, was vom Neoliberalismus übrig bleibt: unten Abschaum, oben Milliardäre, die Mittelschicht zerrieben. Die britische 2-Klassen-Gesellschaft auf dem Höhepunkt ihres Niedergangs. Brexit, Exitus, Elend bis zum Erbrechen. Die Firmen sind von Chinesen aufgekauft, die Elite ist kaputt, die Moral ein Totalausfall. Und die Regierung? Bloss keine falschen Hoffnungen. Programmierer erschleichen sich still und leise die Macht – und werden am Ende selber gelenkt und überwacht von Superrechnern. Willkommen in der Welt der künstlichen Intelligenz. God save the Queen.
Nie mehr verletzt werden!
«GRM» heisst Sibylle Bergs neuer Roman (nach Grime, dem elektronischen Musikstil), aber was sag ich «Roman». Ihr Buch mit dem Untertitel «Brainfuck» ist quasi eine neue Gattung. Nun wird es ein bisschen kompliziert. Aber unterkomplex zu schreiben, war noch nie Sibylle Bergs Ding. Weil das dumm wäre. Weil die moderne Welt eben kompliziert funktioniert, technisch, ökonomisch, menschlich.
«Brainfuck» (zu Deutsch Hirnfick) ist eine esoterische Programmiersprache, erfunden 1993 vom Schweizer Urban Müller. Um den Roman zu verstehen, braucht man keine Vorkenntnisse in Sachen Computersprache. Nur das: Auch Sibylle Berg geht es um eine hoch kompakte Sprache, um Kompilieren – und um Berechenbarkeit. Ausgehend von gesellschaftlichen Zuständen, wie wir sie alle kennen, rechnet sie hoch, wie unsere Zukunft aussehen könnte. Desolat, mörderisch, kalt.
Sie denkt sich keine technokratische Science-Fiction-Story aus. Viel besser: Sie knüpft präzise bis ins Detail an unsere Gesellschaft und Gefühle an – und packt dadurch den Leser von innen her, direkt. Die Zukunft lebt; jetzt.
Das Buch funktioniert wie ein apokalyptischer Ritt durch die Gegenwart in die Zukunft hinein. Berg, die versierte Kolumnistin, packt in eine Serie von Horrorszenen, was Medien, Moden und Wissenschaften an Neuigkeiten und Scheusslichkeiten hergeben. – Gibt es keine Handlung? Doch.
Vier Kinder aus desolaten Verhältnissen tun sich im Obdachlosenheim zusammen. Don, Hannah, Karen und Peter, alle aus kaputten Familien, gedemütigt von Sozialämtern, missbraucht von Erwachsenen. Die Armen? Jetzt nur nicht weinerlich werden. Nur kein Gratis-Mitleid. Wäre nicht Bergs Stil. Eher sagt sie: Kinder gewöhnen sich an jeden Mist, wozu Gefühle entwickeln, wenn keiner da ist, der Anteilnahme entwickelt. Wenn sie Anteilnahme bekommen, dann nur von einem: dem Leser. Gut so. Wir sind dabei.
Die vier Freunde haben nur sich selbst. Ihr Motto: Nie mehr verletzt werden! Obwohl sie Angst haben, verlassen sie ihr dreckiges Loch in Rochdale, gehen nach London und hausen in einer leeren Lagerhalle («Top-Immobilie»). Sie finanzieren sich durch Erpressung. Sie essen Nudeln mit Tomatensauce. Und erstellen eine Todesliste. Sie wollen jene töten, von denen sie missbraucht worden sind. Und werden weiterhin ständig misshandelt. Seelisch, körperlich, überall. Jedes Erlebnis nimmt die schlimmstmögliche Wendung. Das wirkt lachhaft grotesk und erbärmlich traurig zugleich. Running Gag: Ständig regnets in London. Absurd.
Berg hat die Kinder vernetzt mit einer Vielzahl anderer Figuren. Peters Mutter mit ihrem Blowjob beim russischen Oligarchen. Attentäter latschen durch Soho und zerlegen Passanten mit der Machete. Der Frauenhasser Carl beisst seiner Nachbarin den Kehlkopf heraus. Gehts vielleicht noch schlimmer? Bei Frau Berg immer.
Keine Hoffnung auf Revolte
Speziell für die Oberschicht hat sie jede Menge Perversitäten und Obszönitäten parat. Und vor allem einen mörderischen Vater-Sohn-Konflikt. Willkommen in der Gated Community der Milliardäre. Sohn Thome erwürgt seine Stiefmutter, zerstampft in ihrem Bauch das Ungeborene, und alles weg in die Tonne mit Säure. Thome wird Alleinerbe. Sein Vater will sich das Amt als Premierminister erkaufen. Doch die Bevölkerung, «dumm wie Spucke», ist gegen die Elite und wählt lieber die Internet-Partei. Premierminister wird ein jungdynamischer Avatar. Thome erschiesst seinen Vater – auf dessen Wunsch. Und so weiter.
Keine Hoffnung auf Revolte, nirgends. Eine Gruppe junger Hacker fühlt sich superstark, dabei wird sie längst von IT-Leuten überwacht, über denen China wacht und oben der Supercomputer. Die Baby-Hacker schaffen es allenfalls, einen selbst fahrenden Touristenbus in die Themse zu stürzen. Drohnen verdunkeln den Himmel. Die Bürger sind gechipt. Die Armen sind ruhiggestellt durch garantiertes Mindesteinkommen. Für Wohlverhalten gibts Punkte. Als Gesprächspartner hat man Dinger wie Siri. Unglücklich ist niemand mehr. Glücklich auch nicht.
Der Roman, super intelligent konstruiert, funktioniert ein bisschen wie das Internet. Klick und weg und weiter. Die Figuren werden angeklickt, ihre brutalen Schicksale in einzelnen Szenen vertieft und miteinander vernetzt. Eine Horror Picture Show, typografisch aufbereitet. Die Handlung entwickelt sich nicht linear von Kapitel zu Kapitel, sondern wird Zusammenhang erst im Gehirn der User, also der Lesenden. Brainfuck eben. Toll gemacht. Form und Inhalt sind auf der Höhe der Zeit.
Freunde für ewig? Ach was
Wie nebenbei ergibt sich ein doppelter Entwicklungsroman. Die vier Freunde entwickeln sich zu Erwachsenen, und auch für die alte Menschheit bricht eine neue Epoche an. Die menschliche Intelligenz entwickelt sich höher zur künstlichen – ohne Menschen: «Neustart der Evolution». Die alte Weltunordnung wird durch die neue Ordentlichkeit der künstlichen Intelligenz abgelöst: «Wenn es schon nicht gelungen ist, das menschliche Hirn weiterzuentwickeln, warum nicht ein Neustart mit fleischlosen Mitteln», ätzt Berg. Und: «Diese sogenannte Demokratie war ja nur eine Briefkastenfirma für die Superreichen.» In dem Stil ist der gesamte Roman geschrieben. Spreng-Sätze.
Am Anfang war Musik, am Ende ist Musik. Am Anfang hören die Kinder Grime – «wütende Drecksmusik für Kinder in einem Drecksleben». Am Ende stehen sie beieinander, und ein neuer Grime-Star singt: «Oh, let's make this last forever.» Freunde für alle Zeit bleiben? Ach was. Die vier sind sich fremd geworden, was ewig dauern wird, ist die schöne neue kalte Welt der künstlichen Intelligenz. Mehr schlimmer Schein geht nicht.
Ist das ein guter Roman, weil er so böse ist?
Das letzte Wort soll der politische Philosoph Ernst Bloch haben. Er meinte: «Denken heisst Überschreiten.» Bei Überschreitungen ist Sibylle Berg eine Meisterin. Sie hat eine wahre Lust am Bösen. Der Franzose Michel Houellebecq ist ein lieblicher Chorknabe im Vergleich mit der hochbegabten Kaputt-Schreiberin Sibylle Berg. Sie konzentriert ihre Schreibenergie völlig auf den Niedergang, die Dystopie. Dazu Bloch: «Wenn wir zu hoffen aufhören, kommt, was wir befürchten, bestimmt.» Das Prinzip Hoffnung überlässt der Berg-Roman dem Leser.
Sibylle Berg: GRM. Roman. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2019. 640 Seiten, ca. 36 Fr.
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