US-Autoren über die WahlWas amerikanische Star-Autoren zur Wahl sagen
Kristen Roupenian erwägt, sich ins Nirwana zu trinken, Lily Brett schluckt Valium und T.C. Boyle zündet ein Feuer an: Schriftstellerinnen und Schriftsteller in den USA berichten über ihre ganz persönliche Wahlnacht.

Hier berichten sieben Autorinnen und Autoren aus den USA, wie sie die Stunden der Wahl erlebt haben.
Kristen Roupenian

Ich habe nichts Neues oder Hilfreiches über Politik zu sagen; ich habe die Aufgabe, diesen Text zu schreiben, nur übernommen, um mich nicht ins Nirwana zu trinken. Es ist jetzt elf Uhr abends und ein paar Nachrichtensender haben Arizona soeben Biden zugeschlagen, weshalb ich mich jetzt ein wenig besser fühle als noch vor einer Stunde. Verstehen Sie mich nicht falsch, es ist immer noch ein absoluter Albtraum. Aber nur weil man sich etwas herbeisehnt – ein demokratisches Texas, einen demokratischen Senat, einen blauen Tsunami – wird es noch lange nicht wahr, aber wir haben noch immer eine Chance, den nächsten Präsidenten zu stellen, also gebe ich die Hoffnung noch nicht auf.
Ich habe so ziemlich alles getan, was in meiner Macht stand; ich finde, das gibt mir das Recht, bis zur allerletzten Minute optimistisch zu sein. Ich habe gewählt, ich habe gespendet, ich habe ehrenamtliche Arbeit geleistet, ich habe schwierige Gespräche mit meinen Freunden und meiner Familie geführt. Verdammt, ich bin sogar in einen republikanischen Bundesstaat gezogen, damit meine Stimme zählen würde. Vergangene Woche war ich in der Nähe von Austin auf einer Landstrasse unterwegs, da stand ein Mann auf der Strasse, verkleidet als Hotdog, und hielt ein Schild hoch, auf dem stand: «Hunter Biden’s Laptop». Wenn die Texaner auf einen Hotdog hören wollen, tja, dann ist ihnen wohl nicht zu helfen.
Von Kristen Roupenian erschien auf deutsch zuletzt «Milkwishes» (Aufbau Verlag)
Lily Brett

Es ist Wahltag. Alle Menschen, die ich kenne, sind in einem Zustand akuter Panik. Ich habe meinen sehr einfachen Wahlzettel sehr langsam ausgefüllt. Ich hatte grösste Angst, einen Fehler zu machen. Man hätte denken können, dass da ein Formular zu Nuklear- oder Quantenphysik vor mir liegt. Als beruhigendes Zeichen habe ich in den letzten Tagen empfunden, dass Trump einfach weiter lügt. Er hat sich nicht in letzter Minute in Papst Franziskus oder Mutter Teresa verwandelt. Trump lügt, wie andere Menschen atmen.
In den letzten zwei Wochen habe ich tief in die Gesichter der Leute geschaut, die in Schlangen stundenlang vor den Wahllokalen warten, um ihre Stimmen abzugeben. Ich habe versucht zu erkennen, ob sie Republikaner oder Demokraten sind. Aber die Menschen in diesen schier endlosen Schlangen gaben sich viel Mühe, ihre politische Präferenz nicht zu zeigen. Da war nicht einmal ein Hauch der Leidenschaft, des Zorns oder der Empörung zu erkennen, die 100 Millionen Menschen dazu bewogen hat, vor dem eigentlichen Wahltag abzustimmen. Noch nie waren es so viele.
Ich schaue CNN. Die ersten Ergebnisse sind noch nicht einmal eingelaufen und ich bin schon am Limit. Sehr am Limit. Die ersten Ergebnisse sind da. Trump führt in Florida mit sehr kleinem Vorsprung. Ich suche überall nach einer Valium. Ich suche nicht in meiner üblichen Geschwindigkeit, weil ich gerade eine Hüftoperation hatte. Ich finde eine Valium und zerbreche die Fünf-Milligramm-Tablette in zwei Hälften.
Eine knappe Stunde später steigen Trumps Prozente und ich nehme die andere Hälfte der Valium. Ich sitze da und klebe am Bildschirm. Er ist voller Zahlen und keine davon sieht gut aus. Ich vergesse den Schmerz in meiner Hüfte und dass diese ungefähr fünf Kilometer breiter ist als vor der Operation.
Trump führt jetzt in so vielen Teilen des Landes. Ich bin verstört. Zu verstört, um mich niedergeschlagen zu fühlen. Die Spannung, die auf mir lastet, fühlt sich unerträglich an. Ich muss ins Bett gehen. Ich bleibe nicht einmal stehen, um im Spiegel nachzuschauen, ob meine Hüfte wenigstens einen halben Kilometer kleiner geworden ist.
Von Lily Brett erschien im Juli «Alt sind nur die anderen» (Suhrkamp)
T.C. Boyle

Ich habe unter der mörderischen, kriminellen Herrschaft von Nixon gelebt und habe verächtlich über seine ölige, verschwitzte Rücktrittsrede gejohlt. Ich habe während acht langer Jahre gegen die blutige und finanziell katastrophale Big-Business-Präsidentschaft von Bush angeredet. Doch dieser Moment der amerikanischen Geschichte ist viel schlimmer als alles, was ihm vorausging. Joe Biden sagt, bei dieser Wahl gehe es um die Seele Amerikas, und er hat vollkommen recht. Werden wir eine rechte Diktatur, die auf der Freiheit ihrer Bürger herumtrampelt, oder eine mitfühlende, offene, fortschrittliche Demokratie, die den Klimawandel bekämpft und unsere Wissenschaftler darin unterstützt, die Pandemie zu beenden?
Trump versucht, den Leuten das Wählen schwer zu machen, er tönt, er werde eine Niederlage nicht akzeptieren, er stiftet seine Schläger zu Krawallen an. Ist das Amerika? Läden nageln ihre Schaufenster zu aus Angst vor der Gewalt, die er schürt – weil er Angst hat, die Wahl zu verlieren. Ist das Amerika? Ich sage: Nein!
Ich schreibe das, bevor die Wahl entschieden ist, aber ich habe die grosse und feste Hoffnung, dass meine Mitbürger trotz der Versuche der Republikaner, das Wählen zu behindern, das Richtige tun und diesen vierjährigen Albtraum beenden werden.
Nach der Arbeit bin ich allein in die Santa-Ynez-Berge gegangen, um der Anspannung zu entfliehen. Es hat nicht funktioniert. Die Spannung ist erdrückend, unausweichlich, grauenhaft und sie trägt das Gesicht von Trump, unserem Möchtegern-Diktator.
Es ist 17.40 Uhr hier und dunkel, der Nebel drückt die Temperaturen auf 15 Grad, und es wird jede Stunde kälter. Ich werde mir die Wahl nicht im Fernsehen anschauen. Meiner psychischen Gesundheit zuliebe wird mein Abend so aussehen: ein Feuer, ein Glas Wein, Abendessen zu Hause mit Frau B. Später, viel später, werde ich das Schicksal meiner Nation und von jedem anderen lebenden Wesen auf diesem Planeten erfahren.
Von T.C. Boyle erschien zuletzt «Sind wir nicht Menschen» (Hanser)
Gary Shteyngart

Es ist zehn Uhr abends in New York, und wie schon 2016 werde ich eine Schlaftablette nehmen und ins Bett gehen. Was kann ich sagen? Die Wahl ist noch nicht entschieden, die Ergebnisse in den kritischen Staaten, Michigan, Wisconsin und Pennsylvania stehen noch aus. Aber klar ist, dass dieses Land in einer Todesspirale steckt. Ein Staat voller Rentner, Florida, hat einen Mann gewählt, der entschlossen ist, sie umzubringen. Eine Antisemitin und Verschwörungsgläubige wird als Abgeordnete im Kongress sitzen.
Wir sind ein Land ohne Moral, Mitgefühl und Intellekt, regiert von einer Bande von Ignoranten, die uns in den Abgrund stürzen. Mein Beileid gilt den Familien der Viertelmillion Amerikaner, die durch das Virus gestorben sind, und den unzähligen weiteren, die sterben werden, bevor dieses Jahr vorbei ist. Egal wie diese Wahl ausgeht, wir sind eine Sekte geworden, die den Tod anbetet.
Gary Shteyngarts letzter Roman war «Willkommen in Lake Success» (Penguin)
Jonathan Franzen

Joe Biden kann immer noch ein hauchdünner Gewinn gelingen. Aber die Tatsache, dass das Rennen überhaupt so knapp ist, ist ein Schlag in den Magen. Ich bin Pessimist, weil ich gerne angenehm überrascht werde, nicht weil ich später recht bekommen will.
Von Jonathan Franzen erschien zuletzt «Wann hören wir auf, uns etwas vorzumachen?» (Rowohlt)
John Wray ist das Pseudonym von John Henderson, einem US-amerikanisch-österreichischen Schriftsteller.

Jetzt ist es passiert: genau das, vor dem die Statistiker und Zahlenfüchse gewarnt hatten, und genau das, von dem die impulsiveren und rosa Brillen tragenden Progressiven, unter die ich mich zählen muss, sich in ihren schwächeren Momenten nicht eingestehen konnten, dass es geschehen würde. Es werden noch viele Stunden, vielleicht Tage bis zu einem Ergebnis vergehen, aber von dem Moment an, da klar wurde, dass Florida in Trumps Spalte bleiben würde, hatte ich eine Kälte im Magen und eine Leere im Hirn.
Alle diese Umfragen, die die Erosion des republikanischen Lagers zeigten, die mir so viel Befriedigung, so viel Schadenfreude brachten; die Eindeutigkeit der Daten, so viel homogener und beständiger als 2016; und natürlich die simple, unausweichliche Tatsache der Pandemie mit ihren enormen sozialen und finanziellen Kosten. Wie würde ein Staatschef, geschweige denn ein so abscheulicher und offenkundig betrügerischer, angesichts dieser Information sein Amt behalten?
Genau das ist jetzt das Problem in Amerika. Information steht unter Verdacht und ist so gut wie wertlos. Nur ein Narr würde in den heutigen USA Daten Glauben schenken. Und doch muss man uns, den traumatisierten Überlebenden des letzten grossen unmöglichen Ereignisses der amerikanischen Politik, verzeihen für unser fast abergläubisches Vertrauen in Information. Meine Vernunft sagt mir, dass das Rennen um die Präsidentschaft noch nicht gelaufen ist. Aber die posttraumatische Belastungsstörung hat meinen Körper und meinen Geist im Griff. Was meine Vernunft zu sagen hat, zählt nicht das Geringste.
John Wrays letztes Buch war «Gotteskind» (Rowohlt)
Rachel Kushner

Biden kann es gewinnen. Und trotzdem sind die Demokraten verblüfft, wie knapp es ist, nachdem sie, zumindest hier und da, einen Erdrutschsieg vorausgesagt hatten. Ich habe daran nie geglaubt. Warum? Ich setze mir mein Realitätsverständnis aus Anekdoten zusammen. Gelegentlich sagt mir jemand, es sei gefährlich, vom Persönlichen auf das Gesellschaftliche zu schliessen. Ich verstehe die Gründe. Aber die Trump-Wähler, die ich kenne, sind fast ausschliesslich nicht-weiss. Es sind Leute, die aus meiner Schulzeit kenne und deren Leben sich deutlich anders entwickelt haben als meins, mit denen ich aber noch in Kontakt bin.
Und tatsächlich: Es sieht so aus, als habe Trump in jeder demografischen Gruppe Wähler hinzugewonnen, ausser bei den weissen Männern. Meine eleganten Freunde aus meinem erwachsenen, beruflichen Leben: Autoren, Prominente, martern sich mit Fragen über die nicht-weissen Trump-Wähler: «Was denken sich diese Leute? Wie konnten sie nur?»
Mein eigenes Leben bietet wenig Antworten. Aber die Trump-Wähler, die ich kenne, sind arm, Arbeiterklasse. Er bietet ihnen, glaube ich, das Erlebnis, ihre Maskulinität sei noch relevant, einen Trichter für Schuldzuweisungen dafür, wie ihr Leben gelaufen ist, und er beschützt ihr heiliges Second Amendment. Er ist wie ein Classic-Rock-Radiosender. Du kannst zumindest immer noch diesen Sender hören, wenn dir sonst nichts mehr bleibt, kein Job für deine niedrigen Qualifikationen, von dem man leben kann, kein gesellschaftliches Ansehen. Du machst den Radiosender an und du spürst dieses «Hell Yeah». Ich glaube ausserdem, dass Trump die brillante Illusion hergestellt hat, dass eine Stimme für Biden eine Stimme für Covid sei, während eine Stimme für Trump ein «Nein» zur Pandemie war. Dieser Trick scheint sehr effektiv gewesen zu sein.
Von Rachel Kushner erschien auf Deutsch zuletzt der Roman «Ich bin ein Schicksal» (Rowohlt)
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