Wieso so wenige Frauen auf der Bühne stehen
85 Prozent der Musikschaffenden in der Schweiz sind Männer. Der Verein Helvetiarockt versucht dies seit zehn Jahren zu ändern. Co-Leiterin Regula Frei im Gespräch.
Nur 15,7 Prozent der Urheber von musikalischen Werken in der Schweiz sind Frauen. Wir liegen da etwa im Bereich der Förster und Jägerinnen. Warum macht das Musizieren den Frauen einfach keinen Spass?
Es macht ihnen sehr wohl Spass. An den Musikschulen beträgt der Mädchenanteil über 50 Prozent. Bis zur 7. Klasse unterscheiden sich die Berufswünsche generell kaum von jenen der Jungs. Danach gibt es einen Schnitt, und es kommen gesellschaftliche Rollennormen und lange gewachsene strukturelle Probleme zum Tragen.
Was meinen Sie damit? Ist wieder der alte weisse Mann schuld?
Sagen wir es so: Er besetzt nun mal die wichtigsten Positionen. Wir leben in einer patriarchalen Gesellschaft. Wenn wir es schaffen, daran etwas zu ändern, wird es interessant. Deshalb setzten wir uns für eine diverse Musikbranche ein. Unter dem Motto: Was stark ist, ist divers. Das ist schon in der Gentechnik so.
Wie also kommt es zum Einbruch von 50 Prozent Mädchen, die sich zum Musikunterricht anmelden, zu den 15 Prozent, die dann wirklich Musik machen? Ist Musikmachen ganz einfach Bubenzeugs?
Auf eine Bühne zu steigen, ist kein einfacher Akt. Man exponiert sich, nimmt in Kauf, kritisiert zu werden. Viele Frauen trauen sich das nicht zu. Dazu kommt der technische Aspekt. In der IT-Branche oder anderen technischen Berufen finden sich kaum Frauen. Gerade in der Popmusik kommt man heute ebenfalls kaum mehr ohne Computer aus. Im Bereich der Musikproduktion ist der Frauenanteil kaum messbar.
Dass in der Schweiz nur wenige Frauen in Verwaltungsräten sitzen, mag ein strukturelles Problem sein, weil diese – meist von Männern – gewählt werden. Wer oder was hindert jedoch eine Frau im Hier und Heute daran, sich hinzusetzen und Musik zu schreiben?
Es ist die Summe vieler Gründe. Es hat damit zu tun, wie wir sozialisiert wurden und werden, welche Rolle den Menschen aufgrund des Geschlechts in der Gesellschaft zugeteilt wird. Und es fehlen ganz einfach die Vorbilder.
Aber der Popmusik mangelt es doch nicht an weiblichen Vorbildern?
Das Vorbild sollte nicht zu weit vom eigenen Leben entfernt sein – wie das die Pinks oder Rihannas dieser Welt sind. Einen ganz anderen Effekt hat es doch, wenn die eigene Musiklehrerin eine Frau ist, die zudem aktiv in der Musikszene tätig ist. Und davon gibt es leider nicht viele.
Die Genderforschung vermutet, dass Frauen weniger das Bedürfnis zur öffentlichen Selbstdarstellung durch Leistung haben, kreative Projekte lieber für sich entwickeln und erst präsentieren, wenn sie voll davon überzeugt sind.
Das beobachten wir jeden Tag. Männer haben ein ganz anderes Selbstverständnis, auf einer Bühne zu stehen und einfach etwas auszuprobieren. Deshalb zwingen wir unsere Teilnehmerinnen förmlich, am Ende eines Workshops öffentlich zu performen. Das führt auch zu dramatischen Szenen. Es gibt sogar welche, die das ganze Projekt abbrechen, weil sie glauben, noch nicht bereit zu sein. Wenn diese Schwelle dann aber überschritten ist, gewinnen sie schnell an Selbstvertrauen.
«Gerade der Jazz wird von vielen als sehr kompetitiv beschrieben.»
In der klassischen Musik werden weit über 50 Prozent Frauen ausgebildet. Im Jazz liegt der Anteil bei etwas mehr als 10 Prozent. Wie erklären Sie sich diesen Unterschied?
Alle Attribute, die wir – leider immer noch – gemeinhin dem Männlichen zuweisen, das sind auch Attribute, die man mit Rock oder Jazz verbindet. Gerade der Jazz wird von vielen als sehr kompetitiv beschrieben: Es geht darum, sich solistisch Raum zu verschaffen, ein Statement zu setzen – es ist ein Wettkampf.
Müsste sich in der Ausbildung etwas ändern?
Es gilt für alle Playerinnen und Player im System Musikbranche dasselbe. Wenn wir uns bewegen wollen, müssen wir uns hinterfragen und etwas ändern. Das ist unbequem. Dies gilt auch für die Bildung. Es müssen Strukturen, Kommunikation, Programmangebote und Infrastruktur beleuchtet werden.
Eine andere These besagt, dass die weibliche Unlust am musikalischen Ausdruck daher komme, dass Frauen über Jahrhunderte hinweg daran gehindert worden seien, ihre Kreativität auszuleben. Können Sie damit etwas anfangen?
Sehr wohl. Und auch wenn wir es kaum für möglich halten in unserer Blase, ist das auch heute noch so. Am ehesten wird es einem bewusst, wenn man schulpflichtige Kinder hat. Die Idee, was Jungs und was Mädchen zugetraut oder eben nicht zugetraut wird, hat sich kaum verändert. Über kreative Frauen wurde früher kaum bis gar nicht berichtet, und auch heute noch müssen wir hier äusserst achtsam sein.
«Es gibt Missgunst und Neid, und zwar durchaus auch unter den wenigen Frauen.»
Wenn die These mit der Kreativität stimmt: Wie erklärt es sich dann, dass an Kunstschulen wiederum weit mehr Frauen als Männer ausgebildet werden?
Es ist ein Unterschied, Kunst zu machen oder auf einer Bühne zu stehen. Kommt hinzu, dass die Musikszene ein ziemlich raues Umfeld ist. Es gibt Missgunst und Neid, und zwar durchaus auch unter den wenigen Frauen, die mitmachen. Des Weiteren wählen Frauen in der Regel den Weg der formalen Bildung, und Männer trauen sich, auch im Berufsleben einfach mal etwas auszuprobieren.
Wie also wollen Sie mehr Frauen zur Musik bringen?
Wir haben drei Schwerpunkte: Workshops, Sensibilisierungsarbeit und das Bilden und Erweitern von Netzwerken. Wir wollen Frauen davon überzeugen, dass sie live spielen, Beats programmieren, Songs produzieren und auflegen können. Das ist regelrechte Entwicklungsarbeit. Es schockiert mich selber, wie gross diese Hemmschwelle noch ist.
Helvetiarockt hat auch laut beklagt, dass viele Schweizer Festivals einen dürftigen Frauenanteil aufweisen. Sie haben erreicht, dass es sich heute kein Veranstalter mehr leisten kann, nicht darauf zu achten.
Sagen wir es so: Viele Clubs und Festivals sind sensibilisiert, aber es fehlt bei vielen Personen noch die innere Überzeugung.
Das könnte damit zusammenhängen, dass die Festivals ja mit 85 Prozent Männern auf den Bühnen bisher einfach eine Realität abgebildet haben. Sie fordern nun eine Frauenquote von 30 Prozent, und selbst willige Clubs und Festivals bekunden Mühe, diese Vorgaben einzuhalten.
Das verstehe ich. Wir leben ja nicht auf einem anderen Planeten, und wir sind alle in der Musikszene verankert. Wir erwarten nicht die 30 Prozent. Wir erwarten, dass sich Programmleitende mit dem Thema auseinandersetzen, dass sie helfen, eine Veränderung anzugehen. Dass sie Recherchen betreiben. Quoten sind ein Ziel, das man sich setzt. Ein Messpunkt, an dem sich ablesen lässt, ob man sich in die richtige Richtung bewegt.
Es scheint aber, dass man den alten weissen Männern böse Absichten unterstellt. Glauben Sie wirklich, dass irgendjemand lieber Männer als Frauen auf der Bühne sieht?
Wir werfen niemandem bösen Willen vor, sondern Bequemlichkeit. Und deshalb versuchen wir – manchmal durchaus nachdrücklich – die Motivation etwas zu heben und alle zu animieren, aus den bewährten Mustern auszubrechen und die Rechercheanstrengungen zu intensivieren. Es gibt Festivals, die zeigen, dass es möglich ist. Genauso fordernd sind wir übrigens auch gegenüber den Frauen, die sich zieren, auf der Bühne zu stehen.
Viele befürchten, dass sie mit dem Bekenntnis zu einem höheren Frauenanteil die auftretenden Frauen gleichzeitig als Quotenfrauen stigmatisieren.
Quoten sind ein Schimpfwort geworden. Ich war früher auch dagegen, doch je länger man sich mit der Gleichstellungsthematik auseinandersetzt, desto mehr kommt man zur Erkenntnis, dass es sie braucht. Es gibt mittlerweile auch Frauen, denen es vollkommen egal ist, eine Quotenfrau zu sein. Es geht darum, sichtbar zu sein.
Seit zehn Jahren versucht Helvetiarockt nun also die Frauen zu ermuntern, Musik zu machen, und die Veranstalter dazu zu bewegen, diese Frauen auch zu buchen. Trotzdem ist die Tendenz nur leicht steigend. Frustriert?
Nein. Es ist ein langer Weg. Frustriert bin ich nur, wenn ich das Gefühl habe, dass unsere Anliegen nicht ernst genommen werden.
«Statt von der Frau sprächen wir von der Gitarristin.»
Sie sind selber Musikerin. Haben Sie unter Benachteiligungen zu leiden?
Es kam und kommt immer wieder vor, dass mir Männer erklären wollten, wo ich den Bass in meinen Verstärker einstecken muss oder mit welcher Einstellung man den besten Sound erzielt. Es sind kleine Sachen, aber sie ziehen sich durch ein Musikerinnenleben.
Wie hoch wird der Anteil an musizierenden Frauen in zehn Jahren sein?
25 Prozent.
Damit wären Sie zufrieden?
Nein, wir wollen 30. In der Minderheitenforschung hat man herausgefunden, dass eine Untergruppe dann, wenn sie die 30 Prozent übersteigt, in der Gesamtheit nicht mehr als Minderheit wahrgenommen wird. Wir sprächen dann also nicht mehr von der Frau, sondern von der Gitarristin.
----------
Dieser Artikel wurde automatisch aus unserem alten Redaktionssystem auf unsere neue Website importiert. Falls Sie auf Darstellungsfehler stossen, bitten wir um Verständnis und einen Hinweis: community-feedback@tamedia.ch