Silvester 2024«Wie mein erster Apéro auch gleich mein letzter war»
Ein richtiger Apéro kommt mit Alkohol, Essiggürkli und Flûtes. Unsere Autorin Nora Zukker erklärt in ihrem Essay die ungeschriebenen Regeln dieser sehr schweizerischen Tradition.
Ich bin auf dem Weg zu Kaspar. In der Hand eine Flasche Gin, in der Handtasche Tonic und eine Gurke. Hochprozentiges ist auf Zürcher Apéros beinahe schon wild, deshalb bringe ich immer alles selbst mit. Beim Champagner ist mir das Glas zu schnell leer, von Weisswein werde ich angriffig, und Rotwein ist das Allerletzte, wie Speed von der Strasse, da kann ich direkt zuschauen, wie meine Seele aufgegessen wird. Als ich Kaspar in der Bar bei mir um die Ecke kennen lernte und ihm sagte, dass ich es sehr sympathisch finde, dass er zum Apéro auch Gin Tonic trinke, lachte er: «Was ist denn Apéro? Ich bin neu in der Stadt.» – «Die Entschuldigung, vor 19 Uhr zu trinken!» – «Das ist mir sehr angenehm!» Seit da sind wir Freunde.
Haben Sie im Ausland schon einmal erzählt, dass wir Apéros machen? Hat Sie jemand verstanden? Eben. Diese niedliche Verknappung vom Aperitif ist sehr helvetisch. Am nächsten kommt der Apéro vielleicht der britischen Cocktailparty, und ein Cocktailkleid ist explizit nicht fürs Hinsetzen gedacht, sondern für das «Get together» am Stehtisch.
Kaspar ist ein Anlageberater aus dem benachbarten Ausland, aber Anlageberater lohnt sich in Zürich einfach mehr. Heute hat er zu sich eingeladen, um nach einem Jahr auch sozial anzukommen. In der Schweiz findet man immer Gründe, sich im Dazwischen zu treffen, also nach der Arbeit und vor dem Abendessen. Neue Stelle. Apéro. Umzug. Apéro. Frühlingsanfang. Apéro. Sommeranfang. Apéro. Neuen Lebensabschnittspartner vorstellen. Apéro. Trennung. Apéro. Pensionierung. Apéro.
Kaspar hat gestern noch einen Zettel im Treppenhaus aufgehängt und die Nachbarn eingeladen, obwohl ich ihm gesagt habe, da komme eh keiner.
18.10 Uhr, Whatsapp von Kaspar: «Wo bist du? Die Nachbarin steht in ihrem ‹Ich schlendere in sanften Pastelltönen durch die Stadt›-Look im Wohnzimmer! Auf dem Zettel sei um 18 Uhr und nicht ab 18 Uhr gestanden. Ist die komisch, oder seid ihr so?
Ich bleibe stehen und trinke einen Schluck Gin. Dann beisse ich von einem Proteinriegel ab. Apéros sind die Endgegner meines Cortisolspiegels. Jetzt kann ich nicht mehr umdrehen, auch wenn allen damit am meisten gedient wäre.
«Gib ihr ein Glas und Salzstangen, bin gleich da!» – «Sie hat das Intervallfasten für sich entdeckt und schon gegessen.» Ein grosses Missverständnis in unserer Apérokultur: Zum Abendessen lädt man «um 18 Uhr» ein, alles andere wäre seltsam. Kommt ja keiner eine halbe Stunde später, wenn der andere kocht. Aber zum Apéro, der sich als sozialer Hybrid gibt, laden wir gern «ab 18 Uhr» ein, soll ja ungezwungen sein. Auch wenn die Gastgebenden bereits drei Gläser getrunken haben, wenns klingelt.
Manchmal ist der Rahmen klar abgesteckt: Der Apéro im Büro endet immer nach zwei Stunden, für diese Zeit ist der Orangensaft und der Chasselas berechnet.
Nächstes ungeklärtes Problem: Wenn schon um 17 Uhr eingeladen wird, weiss man, um 19 Uhr könnte man zu Abend essen. Wenn aber erst um 18 Uhr eingeladen wird, ist gar nichts mehr klar: Soll ich dann vorher noch ein Stück Brot essen? Oder soll ich einfach nur für eine halbe Stunde bleiben, Hauptsache, ich war da? Oder kann ich um 20 Uhr vorschlagen, dass wir was beim Lieferdienst bestellen? Ich mache es jedes Mal falsch. Wenn ich nach dem vorhergegangenen Apéro zwar um 23 Uhr im Bett war, aber mit dem fiesesten Kater aufgewacht bin, esse ich vor der nächsten Einladung was, und natürlich gibt es dann immer ein Buffet.
Manchmal ist der Rahmen klar abgesteckt: Der Apéro im Büro endet immer nach zwei Stunden, für diese Zeit ist der Orangensaft und der Chasselas berechnet. Danach zieht man in Grüppchen weiter oder bringt die Kinder ins Bett. Es gibt auch Apéros mit Ansage: Negroni um 16 Uhr, Rosé auf leeren Magen – Eskalation mit Stil. Aber immer gilt: Wer auf einen Apéro geht, betritt die Zone sozialer Verunsicherung.
Ich klingle, Kaspar fällt mir um den Hals, ich zieh die Schuhe aus, er schaut mich an, ah nein, Schuhe wieder an. Ist ja Apéro. Kaspar geht in die Küche. Aus dem Wohnzimmer ein heller Schrei.
«Monet, aus!» Monet leckt der Nachbarin die Zehen in ihren Peeptoes. Ich entschuldige mich für eine Weimaraner Dogge, die mir nicht gehört. Sie trägt ein Halsband von Louis Vuitton und hat mehr Follower auf Instagram als alle Gäste, die heute hier aufschlagen werden.
«Monet?», die Nachbarin trocknet sich mit einem Taschentuch ihre Zehen ab. «Ja, Monet, wie der Maler!» – «Du wohnst offensichtlich nicht hier? Ist ja alles sehr männlich eingerichtet, aber das muss ja nichts Schlechtes sein!» – «Ich gehe manchmal mit dem Hund spazieren, wenn Kaspar arbeitet und wenn ich übermütig werde, jogge ich sogar!» – «Ich gehe kaum noch joggen, weil ich so oft Querflöte spiele. Für beides ist einfach keine Zeit.» Ich muss trinken. Sofort. In der Küche holt Kaspar die Trockenfleisch- und Käseplatten aus dem Kühlschrank. Ich giesse grosszügig Gin ins Glas, werfe Gurkenscheiben dazu, streue Pfeffer drüber und giesse Tonic ein. «Sei lieb mit ihr, die treffe ich morgen wieder in der Waschküche!» – «Du kennst mein Talent für Small Talk. Prost!»
Ab einem gewissen Alter gilt doch: Es wird nichts mehr fürs Buffet mitgebracht.
«Die Hälfte hat abgesagt. Zahnendes Kind, Deadline, Migräne, Saftkur, Corona, haste nicht gesehen!» Kaspar hat es komplett übertrieben mit dem Buffet. Von Salzstangen und Oliven über Käse und Trockenfleisch, verschiedene Brot- und Hummussorten, Gemüsesticks und Kräuterquark – alles da. Bier, Cava, Weisswein, Rotwein und Mineralwasser stehen auf einem Beistelltisch. Weisse Servietten, Gläser, Teller, Besteck.
Es klingelt. Ich habe Hoffnung. Kaspar verschwindet an der Tür, und ich stehe vor dem ganzen Essen neben der Nachbarin. Sie zeigt auf ein Silbertablett. Darauf geköpfte und ausgehöhlte Weintrauben. «Die Frischkäsefüllung ist eine Eigenkreation, und das Minzeblatt rundet das Ganze optisch ab.» – «Ist nicht genau das labbrige Fleisch der Traube das Beste an der Frucht?» Sie schaut mich traurig an und klammert sich an einen Stangensellerie. «Machst du nicht gerade Intervallfasten?» Ich kann es einfach nicht. Balkon. Rauchen. Jetzt. Ab einem gewissen Alter gilt doch: Es wird nichts mehr fürs Buffet mitgebracht. Spätestens wenn alle arbeiten und verstanden haben, dass das Leben zu kurz ist für schlechten Alkohol, lädt ein Gastgeber ein. Manche stehen zwei Tage in der Küche und schneiden aus Radieschen Krönchen oder hobeln Tête-de-moine-Rosetten. Das ist die Schweiz: Silberzwiebeli, Gürkli, gekräuselter Käse und Flûtes. Ich habe mich schon oft gewundert, dass die ganze Wüste Gobi in einen einzigen Mund passt.
In der Küche steht jetzt ein Typ, der eine Flasche Weisswein aus der Seitentasche seines Arc’teryx-Rucksacks holt.«Ich bin Rico. Ich möchte schon lange mit Kaspar und den Bikes die Anbaugebiete abfahren. Bis wir das machen, schenke ich ihm Weisswein aus verschiedenen Regionen.»Ich greife in die Schale mit den Wasabinüssen und strecke ihm die Hand hin. Rico schaut auf meine salzigen Finger und holt aus der Innentasche seines Rucksacks das Desinfektionsmittel.
«Ich war auf der Clownschule. Ist aber alles kompliziert gerade. Jetzt arbeite ich abends in der Bar. Und Kaspar ist ein zuverlässiger Gast.» Ich bin hier vermutlich die Einzige, die das RAV von innen kennt. Rico fürchtet sich ein bisschen vor mir, was er nie zugeben würde: «Du als Clown hinter dem Tresen! Das stell ich mir irgendwie heiss vor.»
Wann genau endet ein Apéro? Das weiss halt auch niemand.
Ich zeige ihm Grimassen vor und denke an «Joker» und dass heute einer dieser Abende ist, an denen ich jederzeit einfach durchdrehen könnte, weil hier niemand ist, den ich interessant finde. Dann fühle ich mich leer und werde zum Punk. Ich mache jetzt einfach eine Milieustudie. Arbeitstitel: «Apéro in der Schweiz – entspannt euch!»
Ich frage Rico, was er von der Textsorte Weinetikette halte. «Das ist alles zu ungenau, diese ganzen Adjektive. Am Ende passen doch alle Weine zu jedem Essen. Ich gehe nur in eine bestimmte Weinhandlung, wegen der Beratung und weil der Newsletter übersichtlich ist. Immer wieder laden sie mich zu Degustationen ein, da lerne ich dann auch hie und da jemanden kennen.» Dort habe er sich unsterblich in eine Chiropraktikerin verliebt. «Die hat mich nach dem dritten Treffen verlassen.» – «Verlassen wird man doch erst, wenn man zusammen war, nicht?» – «Das stimmt. Zusammen waren wir irgendwie nicht. Jedenfalls schaue ich mir jetzt vor dem Einschlafen gern Videos von Chiropraktikerinnen an. Das Knacken fremder Gelenke beruhigt mich.»
Ich gehe zurück ins Wohnzimmer und setze mich in die Lounge. Als ich mit Rico in der Küche war, kam offenbar ein Efeu dazu. Eine dieser Frauen, die bereits einen Neuen hat, kaum ist einer gegangen. Manchmal erstickt einer nach wenigen Wochen, andere halten sich Jahre, bis sie neue Männerbeine findet, um die sie sich winden will. Sie ist heute allein gekommen. Das ist bei einem Efeu natürlich nicht nur gut. Ich kann von zwanzig runterzählen. Sie stützt die Hände in die Hüfte und baut sich vor Kaspar auf: «Bist du ein Mann, der die Etiketten von den Dosen löst, bevor er sie entsorgt?» Kaspar ist überfordert und nickt, obwohl er den Kopf schütteln will. Zu spät. Sie schmeichelt mit ihren Fingern seinen oberen beiden Hemdknöpfen.
Ich fräse dazwischen: «Hey! Na? Wer bist du denn?» – «Ich bin Mia und arbeite Teilzeit im Backoffice in Kaspars Firma. Eigentlich würde ich ja gern für eine NGO arbeiten, weil ich gegen den Kapitalismus bin. Aber Veränderung ist nicht so meins. Darum bleibe ich in der Firma und nähe nebenbei Masken mit farbigen Blumenprints.» Mia hat die neusten Stücke aus ihrer Kollektion mitgebracht, die sie jetzt an die Weinflaschen hängt. «Ihr dürft euch alle eine aussuchen, ich würde mich natürlich freuen, wenn ihr ein Selfie auf Insta postet unter dem Hashtag #maskenmia. Und jetzt lasst uns Apéröle!»
«Wer Apéröle sagt, macht auch den Seestern im Bett!», ich lache so laut, weil ich hoffe, alle vergessen ganz schnell. «Und dieses Posten gegen die Bedeutungslosigkeit auf Insta. #foodporn #foodie #champagneoclock. Also Gin Tonic ist für mich ja eher #metime #selfcare #safespace.» Kaspar macht eine «Geh auf den Balkon rauchen»-Kopfbewegung. Dort checke ich den Hashtag und finde mehr Lack und Leder als Masken von Mia. Kaspar hat mir in der Zwischenzeit einen Link geschickt zu einer Agentur, die Knigge-Kurse anbietet: Ist es Ihnen wichtig, vorhersehbare «Fettnäpfchen» zu erkennen und diese galant zu umschiffen? Ich werde gehen, auch wenn ich es mir als Milieustudie verkaufe. Wenn ich weiterhin auf Apéros eingeladen werde mit solchem Personal wie heute, muss ich bald die Stadt verlassen. Ich werde spätestens in einer Stunde aufbrechen. Wenn man schon nicht weiss, wann ein Apéro endet, muss ich mir jetzt selbst Regeln aufstellen.
Zurück im Wohnzimmer, werde ich nach meinem Beruf gefragt. Rico zwinkert mir zu. Ich trinke schnell mein Glas leer. «Leute, ein Ausflug in den Seilpark, ist das euer Kick? Kann mir mal bitte jemand widersprechen?» Mia nickt. War ja klar. «Nicht irgendwas, das richtig reinkickt? Pilze? MDMA? Von mir aus auch in einer Früchtebowle? Oder LSD?» Monet jault.
In der Schweiz wird öfter auch zum Apéro riche eingeladen. In den einen Kreisen bedeutet das Blätterteig-Birnen-Galettes, Frittata-Muffins und Polenta-Pommes. Lauwarm soll es sein, und das ist ein Kompliment. Anderswo klingelt es, jemand steht im Türrahmen, öffnet den Pizzakarton und zeigt dem Gastgeber das Menü in kleinen Plastiksäckchen. Der nimmt sich raus, was seine Gäste gesprächiger macht, und legt die Scheine in den Karton. Dann wird über den naturbelassenen Wein geredet, während der Gastgeber Linien zieht, die nicht ganz so fair produziert wurden. Jetzt wäre es zwar super unvernünftig, aber doch sehr praktisch, wenn irgend so ein Dani auf seinem Fixie mit dem Pizzakarton vorbeikommen würde.
Anfangs denk ich immer, ich könnte vor Glück in den Himmel fallen, und dann fällt mir immer der Himmel auf den Kopf.
Wann genau endet ein Apéro? Das weiss halt auch niemand. Gut, «Apéro riches» in der «extended version» enden dann, wenn die letzte Linie gezogen wurde und die Sonne aufgeht. Und sonst? Der Klassiker: Wenn jemand aufsteht, stehen alle auf und haben dann plötzlich entweder einen frühen Termin am nächsten Tag, Kinder oder Kopfschmerzen.
Kaspar balanciert eine geköpfte Weintraube in seinen Mund, während sich die anderen entschuldigen und verabschieden. Jetzt sind alle weg, und ich lege beschämt den Kopf auf den Tisch. «Nicht weinen jetzt, bitte nicht weinen!» Kaspar hält das nicht aus. Das hat mit seiner Mutter zu tun. «Monet muss nochmals raus», er steht auf, die Dogge nicht. Die liegt lethargisch auf ihrer Burberry-Hundedecke. «Das stimmt doch überhaupt nicht, Kaspar!» Ich lege mich neben Monet auf das Parkett, streichle ihn, bis er aus der Schnauze sabbert. «Eigentlich vertrage ich keinen Alkohol. Anfangs denk ich immer, ich könnte vor Glück in den Himmel fallen, und dann fällt mir immer der Himmel auf den Kopf.»
«Du liegst besoffen und eng umschlungen mit meinem Hund auf dem Boden. Du kannst Apéro einfach nicht, und ich versteh dich total.» Kaspar bringt uns eine Decke und geht ins Bett. Ich brauche Regeln für dieses soziale Dazwischen. Wer die Regeln kennt, kann auch mit Stil eskalieren. Jetzt fragen Sie sich, warum ich nicht einfach den Alkohol weglasse? Habe ich versucht und literweise alkoholfreies Bier getrunken. Aber dann wurde ich den ganzen Abend über gefragt: «Wann ist es denn so weit? Man sieht ja noch gar nichts!»
(Dieser Text ist 2022 im Rahmen einer Artikelserie über Alkohol erschienen.)
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