Ihr Browser ist veraltet. Bitte aktualisieren Sie Ihren Browser auf die neueste Version, oder wechseln Sie auf einen anderen Browser wie ChromeSafariFirefox oder Edge um Sicherheitslücken zu vermeiden und eine bestmögliche Performance zu gewährleisten.

Zum Hauptinhalt springen
Meinung

Kommentar zum Filmfestival Locarno
Weiss Locarno, was es für ein Festival sein will?

Eine Zuschauerin auf der Piazza Grande am 75. Filmfestival in Locarno.
Jetzt abonnieren und von der Vorlesefunktion profitieren.
BotTalk

Als der Abspann des Wettbewerbsfilms anrollt, klatscht ein Zuschauer besonders laut. Es ist ein Vertreter des Auswahlkomitees, der sich im Kino für «sein» Werk einsetzt. Das ist natürlich ein schönes Engagement, aber sein Applaus wirkt schon fast symptomatisch für die 75. Ausgabe des Filmfestivals: Die Leute von Locarno glauben stärker an ihre Filme als an das Publikum.

Vom künstlerischen Direktor Giona A. Nazzaro weiss man seit seiner ersten Ausgabe vom letzten Jahr, dass er alles mag, was eine Tendenz zum Thriller hat. Als wolle er sagen: Es kann ja niemand etwas gegen eine spannende Geschichte haben. Beispiele waren auf der Piazza wie auch im Wettbewerb zu sehen, die Filme hiessen «Bullet Train», «Stone Turtle», «Delta», «Medusa Deluxe», «Ariyippu», «Paradise Highway» oder «Bowling Saturne». Vieles davon war ein Mix aus Gewalt und Milieu – oder aus Gewalt und Humor.

In beiden Fällen wirkten die Resultate unentschieden. Oft schauten wir in Locarno ein Drama, das irgendwie noch ein Krimi werden musste, oder erlebten übersteuerte Brutalität, die eher irritierend wirkte, als dass sie effektiv gewesen wäre.

Giona A. Nazzaro ist seit letztem Jahr künstlerischer Leiter des Festivals.

Nazzaro scheint ein Anhänger des «vulgar auteurism» zu sein, wonach man gerade die kommerziellsten Actionregisseure als Meister der filmischen Form interpretiert. Nichts dagegen, aber der von Nazzaro hochgelobte Eröffnungsfilm «Bullet Train» mit Brad Pitt löste dieses Versprechen wirklich nicht ein.

Heute spielen zahlreiche Autorenfilmer mit Elementen aus dem Genrekino, von Horror über Fantasy bis Erotik wie im diesjährigen Siegerfilm «Regra 34» aus Brasilien. Schliesslich wirkt die Ästhetik des Suspense nun auch für Produktionsfirmen attraktiver, da sie mit gewohnten Arthouse-Titeln im Kino immer mehr Mühe haben. Bloss blieben diese Erzählmuster in Locarno oft einfach das, was sie sind, nämlich Muster. Und die Filme waren damit deutlich weniger einfallsreich, als es uns das Festival weismachen wollte.

Wenn Locarno die Vielfalt der Formen und die Entdeckung feiert, droht immer die Gefahr, alles Mögliche zu zeigen. Dieses Jahr gab es vieles, vom herkömmlichen Beziehungsdrama bis zum typischen Festivalkino. Wie die Elegie «Human Flowers of Flesh» aus Deutschland, eine weitgehend ereignislose Reise auf einer Segeljacht, wo die Figuren ein wenig aufs Meer hinausschauen.

Locarno war immer ein guter Ort für solche Experimente, die im normalen Kinoprogramm keine Woche überleben würden, weil sie mehr an der Poesie des Moments interessiert sind als an einem Plot. Aber das avanciertere Kino musste man dieses Jahr regelrecht suchen. In der unschlüssigen Auswahl drohte es zu verschwinden. 

Zum 75-Jahr-Jubiläum wirkte Locarno überhaupt unschlüssig: Was will dieses Festival sein im posttraumatischen Zustand nach der Pandemie? Ein Fest des avantgardistischen Kinos für die stetig schrumpfende Bubble der Cinephilen? Eine Wochenend-Destination für Nationalräte und Sponsorengäste, die sich in der neuen und ziemlich unsympathischen Campari-Lounge treffen? Ein Openair-Kino mit Rahmenprogramm und Vorpremieren, zu denen man mehr oder minder berühmte Hollywood-Talente einfliegt? Ein wenig von allem, das war der Eindruck.

Hier ist immerhin klar, was es gibt: Die neu errichtete Campari-Lounge in Locarno. 

Wie immer beglückend war die stark besuchte Retrospektive, diesmal zu Douglas Sirk. Der Westschweizer Regisseur Lionel Baier hielt einmal eine Einführung und lobte Locarno für seine historischen Programme: An sie könne man sich immer halten, vor allem, wenn die restliche Auswahl weniger hergebe als erwartet. Nach diesem Satz gab es so richtig kräftigen Applaus.