Kommentar zum moralischen ZerfallWarum übernimmt in den USA niemand mehr die Verantwortung?
Vom Weissen Haus bis in die New Yorker Subways: In den Vereinigten Staaten wird es zunehmend unmodern, für etwas geradestehen zu müssen.

Kokain im Weissen Haus! Die Meldung vom Fund eines Plastikbeutelchens mit dem weissen Pulver im Vorzimmerbereich des Westflügels versetzte vor zwei Wochen ganz Washington in fiebrige Erregung. Wie hatte das Rauschgift den Weg in den Regierungssitz gefunden? Stammte es vielleicht, fragten Republikaner voller Vorfreude, von Präsident Joe Bidens Sohn Hunter, der solche Drogen einst konsumiert hatte?
Der für die Sicherheit des Weissen Hauses zuständige Secret Service versprach, die Herkunft des Kokains schleunigst herauszufinden. Aber es erstaunte niemanden, als die Untersuchung diesen Donnerstag ergebnislos eingestellt wurde. Keine Fingerabdrücke, keine DNA-Spuren seien interpretierbar gewesen, hiess es. Überwachungsvideos hätten nichts ergeben, und man könne ja nicht rund 500 Menschen, die als Urheber infrage kämen, einzeln einvernehmen.
Manche werden den Erklärungen des Secret Service Glauben schenken. Anderen jedoch leuchtet nicht ein, dass sich nicht mehr über den Vorfall in dem am besten geschützten und überwachten Gebäude des Landes herausfinden lässt. Viele werden folgern: Die Wahrheit wird unter Verschluss gehalten.
Sie hatten dasselbe Gefühl bereits, nachdem letztes Jahr zum ersten Mal in der amerikanischen Geschichte der Entwurf eines Bundesgerichtsurteils vorzeitig den Medien zugespielt worden war. Auch hier – es ging um die hochbrisante Abtreibungsfrage – endete die Suche nach der verantwortlichen Person angeblich ohne Ergebnis, obwohl bloss 91 Männer und Frauen Zugang zu dem Text hatten.
Wenn Verantwortliche nicht zur Rechenschaft gezogen werden, interpretieren das Bürgerinnen und Bürger als Freipass für eigene Übertretungen.
Der Verdacht liegt nahe, dass die Öffentlichkeit auf keinen Fall erfahren durfte, wer den Geheimnisverrat begangen hatte. John Roberts, der oberste der neun Bundesrichter, ist bekannt für seine Sorge um den Ruf des Supreme Court. Womöglich war nach seiner Einschätzung der Schaden geringer, wenn der Mantel des Schweigens den Vertrauensbruch weiterhin umhüllt.
Um den Schutz seiner Institution ging es diese Woche wahrscheinlich auch FBI-Direktor Christopher Wray. Der von Donald Trump eingesetzte oberste Bundespolizist gestand vor einer Kommission des Repräsentantenhauses während vieler Stunden keinerlei Fehler seiner Angestellten ein und gab sich unwissend selbst über belegte Beispiele politischer Ungleichbehandlung durch FBI-Leute. Die polternden Republikaner prallten mit ihren Vorwürfen allesamt ab.
Wray half, dass sich die Demokraten an dem Hearing staatstreu gaben, ihn lobhudelten und in allen Fragen die diametrale Gegenposition zu ihren Widersachern einnahmen. Neben dem Selbstschutz staatlicher Institutionen untergräbt demnach die politische Polarisierung jede Verantwortlichkeit: Anstatt für Wahrheit und Faktentreue einzustehen, vertreten beide Lager immer nur das, was im Politkampf der eigenen Seite hilft.
Die Rechenschaftspflicht fehlt in den USA inzwischen selbst bei Fehlleistungen von höchster, weil nationaler Bedeutung. Nach dem verpatzten Abzug aus Afghanistan, bei dem 13 US-Soldaten starben, wurde im Pentagon kein Planer getadelt und in den Streitkräften kein Kommandierender abgesetzt. Auch für die vielen Fehler, die bei der Bekämpfung der Pandemie begangen wurden, wurde niemand richtig verantwortlich gemacht. Offen bleibt auch die allerwichtigste Frage nach dem Ursprung des Virus, das die Welt in die Krise stürzte.
Wenn Verantwortliche für militärische Debakel und Millionen von Pandemietoten nicht zur Rechenschaft gezogen werden, interpretieren das Bürgerinnen und Bürger als Freipass für eigene Übertretungen. Normalsterbliche ahmen die Verantwortungslosigkeit nach, die ihnen Höhergestellte vorleben. Der moralische «Trickle-down»-Effekt wird gefördert durch das Weisse Haus, etwa von Trump, der selbst als Präsident vor keiner Lüge zurückschreckte und ein Leben lang nie ein Fehlverhalten zugab, aber auch von Biden, der sich bei Kritik oft mit absurden Ausflüchten rettet und am liebsten gar keine Stellung bezieht.
Die zunehmende Verantwortungslosigkeit zieht sich bis hinunter in New Yorks Subway, wo inzwischen fast keine Schwarzfahrer mehr gestoppt werden, sodass der hoch defizitären Transportbehörde letztes Jahr 690 Millionen Dollar entgingen. Und in der öffentlichen Bibliothek der Stadt erhält man keine Busse mehr, wenn man seine Bücher nicht rechtzeitig zurückbringt.
Vom Buch zum Kokain, von Trump zu Biden, von Afghanistan bis Wuhan: Rechenschaft einzufordern, ist in den USA nicht mehr gefragt. Für etwas geradestehen? Das war einmal. Für Europa und die Schweiz bleibt zu hoffen, dass dieser Trend für einmal nicht über den Atlantik schwappt.
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