Vokuhila-Rapper Jule XDer Unfassbare
Am Gurtenfestival brachte er den Boden zum Einsturz, Zeitungsredaktionen verzweifeln an ihm, und Coiffeure müssen in den Nachhilfekurs: Der Berner Jule X ist der Mann der Stunde im Schweizer Hip-Hop. Warum bloss?
Auf dem verwackelten und verpixelten Video ist vage zu erkennen, dass sich im Berner Konzertlokal ISC ein Gerangel abspielt. Wer da genau beteiligt ist und warum es zum Disput gekommen sein soll, ist am nächsten Tag auf «20 Minuten» nachzulesen: «Berner Rapper gehen aufeinander los», lautete die Schlagzeile letzte Woche. Der Sprechgesangskünstler Jule X und die Fischermätteli Hood Gäng (FHG) sollen handgreiflich aneinandergeraten sein, weil Jule X etwas vom Furchtbarsten getan hat, was man sich in Hip-Hop-Kreisen ausdenken kann: Er soll einem Mitglied von FHG über die Sneakers gekotzt haben. Die Folge: Schlägerei und Geschrei. Entsetzte Augenzeugen wurden im Artikel zitiert, die Direktbeteiligten beteuerten ihre gegenseitige Verachtung.
Das Spezielle am Ganzen: Das Ereignis hat gar nie stattgefunden. In Chats freuten sich die Protagonisten hernach wie kleine Kinder darüber, dass man den Medien wieder einmal ein Schnippchen geschlagen hat. Es folgten Danksagungen an die Redaktion für die tolle Promo. Letzten Freitag erschien dann pünktlich der gemeinsame Track «Passt scho», ein Trance-Techno-Viereinhalbminüter, der so ziemlich alles in sich vereint, was Grossraumdiscomusik so abstossend und doch so erfolgreich macht.
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Ja, in Sachen Inszenierung und Spurenverwischung hat es dieser Jule X zu einer kleinen Regionalmeisterschaft gebracht. Privat ist nur wenig von ihm übermittelt: Seinen Namen mag er nicht preisgeben, aus dem bernischen Oberbottigen stammt er. Lehre statt Studium, irgendwann ein Praktikum bei der SRF-Hip-Hop-Sendung «Bounce». Seither gehört er als Cutter und Kameramann dem Team der neuen Online-Spass-Sendung «Studio 404» des Schweizer Fernsehens an. «Der Name der Sendung steht für eine Generation, die sich zwischen Boomer-Träumen und drohender Zukunft etwas verloren fühlt», richtet der Sender aus. Und am Telefon bestätigt Jule X die Vermutung, dass er sich in dieser Gefühlsgemengelage ganz gut wiederfindet.
Durchbruch, Kritik und Lob
Die Karriere der Kunstfigur Jule X beginnt grob gerechnet am 21. Oktober 2021 mit der Veröffentlichung eines Songs, der für die angeheiterten Stunden im Partyzelt konzipiert ist: «Homie jedä weiss / Dr Dj isch ä Huersohn / Du muesch wider heii / Dr Dj isch ä Huersohn / I brichä dir dis Bei / Dr DJ isch ä Hueresohn», wird hier skandiert zu einem Deichkind-artigen Club-Beat.
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Jule X wird nach dem Erscheinen dieses Liedes quasi aus dem Stand an den öffentlich-rechtlichen Rap-Battle Cypher 2022 geladen. Das Resultat: Er wird wegen seiner schamlosen Vokuhila-Frisur, dem gewollt unstylishen Sportzweiteiler und wegen seiner launig gerappten Breitseite gegen die Hip-Hop-Konkurrenz landesweit gefeiert.
Eine Adelung gibts auch vom deutschen Rapper Sido. Dieser wird in einer Sendung dazu verbrummt, helvetische Sprechgesangs-Tracks zu beurteilen. Den DJ-Hurensohn-Track von Jule X lobpreist er als «geile Kunst» und dem Outfit des Urhebers attestiert er «Holland Style», was offenbar positiv gemeint war.
Schnell gegangen, meinen die einen. Jule X ist höchstens über die Geschwindigkeit erstaunt, wie seine Figur auf einmal durch den Wertungsfleischwolf gedreht wird: «Ich mache schon ewig Musik. All die Jahre hat mir niemand zugehört. Und jetzt hat auf einmal jeder und jede eine Meinung über mich.»
Kopieren und polarisieren
Im Liefern von musikalischer Diskusionsmasse ist Jule X seither emsig. Es folgen Veröffentlichungen in circa zweimonatlicher Kadenz, unter Einbezug des ganzen rappenden Freundeskreises (von Lil Bruzy über Manillio bis Xen). Und das Ganze ist stilistisch verzettelt wie das «Alles entdecken»-Menü von Zalando: Mal gibts gloriosen Mundart-Trap, mal Ballermann-Techno oder etwas gar süffigen Reggaeton. Und über all dies wuchtet die bubenhafte Sprechstimme des 22-Jährigen mal prollige Mitsing-Parolen übers Saufen an Dienstagen, mal beklagt sie die «Alles egal»-Haltung seiner Generation. Fast immer geht es um Attitüde und sehr gerne auch über die minutiös entlarvte Attitüde der anderen.
Ein kleines Kreativteam soll hinter der Karriereplanung von Jule X stecken, getan werde nur, was einstimmig beschlossen wurde. Und doch vermag er im Gespräch den Eindruck zu verwischen, Jule X sei bloss das Resultat aus Konzept, Kalkül und Inszenierung: «Ich versuche, nicht zu viel zu überlegen», sagt er und scheint fast ein bisschen überrascht, dass in sein Projekt so viel hineininterpretiert wird. Dass seine Musik so vielfältig sei, liege doch nur daran, dass er seit dem 10. Lebensjahr nicht viel anderes tue, als Musik zu hören: «Natürlich ist das meiste eher Hip-Hop-lastig, doch ich höre auch viel Pop. Ich bin eben in einer Zeit aufgewachsen, in der über das Internet alles erreichbar ist.» Message habe er keine – «das Leben nicht allzu ernst zu nehmen, vielleicht – keine Ahnung», schiebt er nach.
Ist Jule X ein grosser Spass, oder ist alles ganz und gar ernst gemeint? «Es ist beides – aber vermutlich ist es ernster, als viele denken.» Doch über die Wirkung eines offensichtlichen musikalischen Witzes sei er dann doch etwas erstaunt gewesen: Im Studio hat er die Werbung eines Onlinesexanbieters gesampelt und über einen Beat gelegt. Mehr war da nicht. Kein Rap, kein Gesang. «Zunächst war ich mir unsicher, ob ich das wirklich veröffentlichen soll. Es ist ja eigentlich kompletter Bullshit, aber heute ist es mein grösster Hit, der gerade in Deutschland erstaunlich gut abgeht.»
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In einem Interview hat Jule X einmal verraten, dass er die Schweizer Hip-Hop-Szene grösstenteils lachhaft finde, dass sein musikalisches Konzept darin bestehe, das zu kopieren, was in Deutschland gerade hip sei, am besten mit einer circa halbjährigen Verzögerung, da man in der Schweiz eh in allem ein bisschen hinterherhinke. Und die Beats seiner Tracks kaufe er sich zusammen oder klaue sie einfach bei Youtube. Gerade die Ansage über den Schweizer Rap ist in der Szene nicht nur positiv aufgenommen worden. Ans diesjährige Cypher wurde er jedenfalls von drei sehr breitschultrigen Bodyguards begleitet.
Heute würde er das nicht mehr ganz so drastisch sagen. Er höre etwas öfter Schweizer Hip-Hop und entdecke da auch mal was Tolles. «Aber klauen, das tue ich noch immer, wenn auch nicht unbedingt in Deutschland.»
Doch was bloss macht diesen sonderbaren Mann auf ebenso sonderbare Art interessant? Es ist dieses schamlose Jonglieren mit den unverdauten Brocken, die der Zeitgeist gerade so auskotzt. Dieses schrankenlose Abenteurern durch die Möglichkeiten der Moden und der Trends – im Guten wie im Schlechten. Und Jule X beherrscht die Kunst des Unfassbarbleibens in einer Zeit, in der die Algorithmen die Welt vollends zu fragmentieren drohen.
Einstürzende Tanzböden
Und dann war da ja noch dieser Freitag, der 14. Juli 2023, am Gurtenfestival. Jule X war auf die eher unbedeutende Soundgarden-Bühne gebucht worden und verzeichnete ein derartiges Publikums- und Ekstaseaufkommen, dass das Konzert wegen Schäden am Tanzboden abgebrochen werden musste. Am nächsten Tag wurde dem Berner spontan ein Slot auf der weit geräumigeren Zeltbühne ausgespart, wo das Fest seine frenetische Neuauflage fand. Seither darf der Mann so ziemlich überall ran, wo der Hip-Hop-Jugend etwas geboten werden soll.
Wo das noch hinführt? Man weiss es nicht. Und was bleibt von Jule X übrig, wenn er seinen Vokuhila überdenkt? «Das ist meine Exit-Strategie. Wenn ich keinen Ausweg mehr aus meiner Karriere finde, dann schneide ich ihn einfach ab. Schluss. Fertig.»
Konzert: Exil Zürich, Do, 28.9.
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