Editorial zum BürgenstockFriedenskonferenz oder Heuchelei, das ist die Frage
Das Ziel der Schweizer Diplomatie muss sein, dass Russland und die Ukraine wieder miteinander sprechen.
Erst einmal sei daran erinnert, wer im Krieg Russlands gegen die Ukraine Täter und wer Opfer ist. Bei einem russischen Luftangriff auf Charkiw ist am Samstag nach offiziellen Angaben ein Baumarkt von einer Gleitbombe getroffen worden. Zum Zeitpunkt des Angriffs hielten sich 200 Menschen in dem Markt auf. «Es gab Tote und Verletzte», schrieb der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski auf der Plattform X. Und weiter: Das sei ein «brutaler Angriff des russischen Militärs. Eine weitere Manifestation des russischen Wahnsinns».
Dem ist eigentlich nichts hinzuzufügen. Ausser, dass man sich fragen muss: Lässt sich dieser Wahnsinn nicht einfach stoppen? Tun alle wirklich genug? Und kann die vielfach belächelte Friedenskonferenz auf dem Bürgenstock vielleicht doch einen Beitrag leisten?
Auf die ersten beiden Fragen ist die Antwort jeweils: nein. Russland hätte es in der Hand, den Krieg sofort zu beenden. Doch Wladimir Putin kann und will keine Niederlage eingestehen, darum lässt er seine Soldaten weiter kämpfen mit dem Ziel, dass das sowieso schon grösste Land der Erde noch etwas grösser wird. Ob aber der Westen wirklich so unschuldig daran ist, dass der «Wahnsinn» weitergeht, wie offiziell gern behauptet, ist nicht so sicher. Schon vor ein paar Wochen schrieben die «Welt am Sonntag» und das US-Magazin «Foreign Affairs», dass sich die Ukrainer und die Russen Ende März 2022 darüber einig gewesen seien, wie man das Blutvergiessen beenden könnte.
In die gleiche Kerbe schlägt nun der gefallene Schweizer Diplomat Jean-Daniel Ruch in seinen Memoiren. Auch er behauptet, es habe im März 2022 in Istanbul eine Einigung auf einen Waffenstillstand gegeben, zum Preis einer Neutralität der Ukraine nach Schweizer Vorbild. Dass es nicht dazu kam, sei die Schuld der USA und Grossbritanniens, die beide die Russen schwächen wollten und dabei Wolodimir Selenski wohl Hoffnungen auf einen Sieg auf dem Schlachtfeld und einen Beitritt zur Nato machten.
Falls das stimmt, so ist das, was darauf folgte, ein Verrat an der Ukraine. Denn erstens verlor die Ukraine später viel Boden, unter anderem die Stadt Mariupol. Zweitens, und vor allem, war es ein Verrat an all den Frauen und Männern, die daraufhin im Krieg starben. Allein beim Fall von Mariupol kamen laut Human Rights Watch mindestens 8000 Zivilisten durch russische Angriffe ums Leben. Hinzu kommen Tausende Soldaten bei der gescheiterten Gegenoffensive letztes Jahr. Sie rannten vergebens an gegen die Russen, weil ihnen der Westen zu wenig wirksame Waffen lieferte. Im Moment sind die Ukrainer schon froh, wenn sie die Front halten können.
Was kann nun die Friedenskonferenz vom Bürgenstock erreichen, wenn die Russen und ihre Unterstützer nicht einmal dabei sind? Für die russische Propaganda ist die Antwort bereits klar, nämlich nichts. «Wir sagten immer, dass diese Veranstaltung in der Schweiz von Anfang an nicht auf das Erreichen des Friedens, sondern auf die Fortsetzung der vergeblichen Versuche, Russland eine ‹strategische Niederlage› auf dem Kampffeld zuzufügen, abzielt», heisst es auf der Website des russischen Aussenministeriums, wo gleich auch noch behauptet wird, seine Geheimdienste hätten bereits den Entwurf des Schlusscommuniqués gesehen, der genau dies bestätige.
Damit das nicht passiert und die Konferenz trotz allem ein Erfolg wird, braucht es wohl nicht nur nette Worte und Solidaritätsbekundungen für Selenski, sondern einen realistischen Verhandlungsvorschlag an die Adresse der Russen. Ob dafür versucht wird, den Entwurf von Istanbul wiederzubeleben, oder ob ein anderer Vorschlag bessere Chancen hat, ist sekundär. Aber klar ist: Wenn man will, dass der «russische Wahnsinn» gestoppt wird, dann braucht es einen Schritt auf den Feind zu, denn ein Sieg auf dem Schlachtfeld ist unrealistisch.
Wenn die Schweiz es schafft, dass wenigstens die Wiederaufnahme von direkten Friedensverhandlungen eine Folge der Konferenz ist, dann haben Aussenminister Ignazio Cassis und Bundespräsidentin Viola Amherd einen grossen Erfolg erzielt. Wenn nicht, dann ist die Konferenz nur die Fortsetzung der Heuchelei des Westens, zu dem auch wir gehören.
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