Ein Tag im Leben eines Touristenführers«Solche Besucher sind ein Test Gottes, der wissen will, wie tolerant ich bin»
Javier Pimentel (57) führt Touristen in Panama durch eines der bedeutendsten Ingenieurwerke der Welt und pflegt seine Mutter.
Wäre es nach meiner Mutter gegangen, wäre ich Priester, Arzt oder Ingenieur geworden. Das waren die Berufe, die zu der Zeit, als ich mein Studienfach auswählen musste, angesagt waren. Als ich vom Besuchstag an der Uni nach Hause zurückkehrte und ihr sagte, dass ich Tourismus studieren werde, verwarf sie die Hände und sagte: «Du wirst sterben vor Hunger!»
Das ist fast vierzig Jahre her, und uns geht es gut. Meine Frau arbeitet auch im Tourismus, in einem Reisebüro. Nach dem Studium habe ich mir als Gründer einer der ersten Reiseagenturen in Panama-Stadt einen Namen gemacht. Dann kam das Angebot des Besucherzentrums des Panamakanals. Seit hundertzehn Jahren gibt es die künstliche Wasserstrasse, diese geniale Abkürzung durch Mittelamerika.
Nun arbeite ich vier Tage die Woche dort und zeige den Touristinnen und Touristen unter anderem eine der Schleusen, wo die riesigen Schiffe das Gefälle von 26 Metern zwischen Atlantik und Pazifik überwinden. Die übrigen Tage der Woche arbeite ich für eine Reiseagentur, falls sie mich dort brauchen.
Meine Tage sind routiniert. Ich stehe um 5.30 Uhr auf und mache eine Stunde lang Kraftübungen. Besonders jetzt, da ich älter werde, merke ich, wie gut mir das tut. Das Frühstück lasse ich aus. Kaffee mag ich nicht, und Hunger habe ich kaum. Nur ab und an gönne ich mir eine heisse Schokolade. Danach fahre ich mit meinem Toyota Corolla einmal quer durch die Stadt. Das dauert meist eine halbe Stunde. Ausser mittwochs und sonntags, dann gehts ein bisschen länger, dann sind Lotterietage, und die Panamaer lieben das Glücksspiel. Viele sind früher unterwegs, um sich vor der Arbeit noch rasch einen Lottoschein zu kaufen. Auch ich stoppe gelegentlich und leiste mir einen. Unsere Lotterie winkt nicht mit Millionengewinnen so wie bei euch in Europa. Hier sind die Beträge wesentlich tiefer. Dafür sind die Gewinnchancen um ein Vielfaches höher.
An einem gewöhnlichen Tag kommen um die 1500 Personen in unser Besucherzentrum. An den Wochenenden können es gut über 2000 sein. Neben mir sind sechs andere Guides im Zentrum verteilt. Kurz vor Öffnung der Türen um acht erhalten wir das Tagesprogramm. Darauf steht, wer um welche Zeit auf welchem Posten ist, wann die Schiffe die Schleusen passieren und allgemeine Infos zum Kanal. Den Leuten stehen wir Rede und Antwort.
Bei manchen Besuchern erhalte ich den Eindruck, sie kommen nur hierher, um auf ihrer Bucketlist ein Häkli zu machen. Am Eingang fragen sie mich: «Was kriege ich hier denn zu sehen?» Dann denke ich mir: Du hast gerade zwanzig Balboas bezahlt, um eines der bedeutendsten Ingenieurwerke des letzten Jahrhunderts und eine der wichtigsten Wasserstrassen der Welt zu sehen, und du fragst mich so was … Solche Besucher sehe ich dann als eine Art Test Gottes, der wissen will, wie tolerant ich gegenüber meinen Mitmenschen bin.
Ich mache diese Arbeit nun seit siebzehn Jahren und werde sie wohl bis zu meiner Pension durchziehen. Jeden Tag das Gleiche zu erzählen ist manchmal langweilig. Als ich den Job annahm, habe ich mir geschworen, jeden Tag etwas anders zu machen; etwa meine Erzählform zu ändern oder die Art, auf Leute zuzugehen. Einfach, um die Monotonie zu durchbrechen.
Um 18 Uhr schliesst das Besucherzentrum, dann habe auch ich Feierabend. Auf dem Nachhauseweg höre ich Salsa. Ich habe extra eine stärkere Anlage in mein Auto gebaut. Die Musik hilft mir abzuschalten. Normalerweise würde ich abends Zeit mit meiner Familie verbringen oder mit Freunden Fussball spielen. Doch im letzten Jahr hatte meine Mutter zwei Schlaganfälle. Seither fahre ich nach dem Abendessen zu ihr und schlafe dort.
Protokoll: Monique Misteli
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