Vor den Wahlen in AlbanienSobald die Kameras aus sind, ist alles wieder beim Alten
Premierminister Edi Rama verspricht dem Land seit Jahren Wandel, Aufschwung, Arbeitsplätze und ein Ende der Korruption. Bloss glauben tut ihm niemand mehr.

Es ist mehr als ein Jahr her, dass in Lac die Erde bebte. Und einige Wochen, dass Ministerpräsident Edi Rama in die Kleinstadt eine Autostunde nördlich der albanischen Hauptstadt Tirana kam, um den Baubeginn des neuen Spitals zu feiern, das die zerstörte Klinik ersetzen soll. Das Spital werde in nur vier Monaten aufgebaut, versprach er.
Beim Besuch in Lac zeigt sich: Bis heute wird hier gar nichts gebaut. «Kaum waren die Fernsehkameras ausgeschaltet und Rama abgefahren, wurden die Baumaschinen weggeräumt», berichtete Tahir Murati. «Die Bauarbeiter gingen auseinander. Es war ein typisches Rama-Versprechen – nichts als ein Wahlkampfstunt.»
In Tirana hat es überall neue Wolkenkratzer
Murati, der selbst jahrelang Bauarbeiter war, hat 2013 und 2017 Rama gewählt, den früheren Maler und Zweimetermann. Er war zunächst Kulturminister, später Bürgermeister von Tirana und wurde 2013 Ministerpräsident. Er will, dass ihm die Albaner am Sonntag bei der Parlamentswahl eine dritte Amtszeit geben. Murati wird dies nicht tun. «Rama hat uns Wandel, Aufschwung, Arbeitsplätze und ein Ende der Korruption versprochen. Nichts davon ist eingetroffen.»
Wer nur nach Tirana schaut, bekommt einen anderen Eindruck: Die Hauptstadt boomt, überall schiessen neue Wolkenkratzer in den Himmel. Kleant Hodaj, 30 Jahre alt, verheiratet, sitzt mit seinem Sohn in einem Café im Zentrum. Er spricht Italienisch und Englisch und arbeitet seit elf Jahren in Callcentern ausländischer Firmen, einer Branche, in der etwa 30’000 Albaner ihr Geld verdienen. Hodaj hat von Olivenöl bis zu Telefonverträgen schon vieles verkauft und verdiente schon vor Jahren mit 750 Euro monatlich mehr als seine Eltern zusammen. Sie sind beide Lehrer. Allerdings stellte Hodaj später fest, dass viele Callcenter-Firmen sich nicht an Bestimmungen halten und zum Beispiel keine Feiertagszuschläge zahlen. Anfang 2020 versuchte Hodaj, eine Gewerkschaft zu gründen – kurz darauf wurde ihm gekündigt. Später fand er eine neue Stelle, kürzlich wurde die Gewerkschaft registriert.

Hodaj ist aufgestiegen und ist zufrieden mit seinem neuen Arbeitgeber, dem Callcenter-Multi Teleperformance. Dass sein Gehalt viel niedriger ist als in anderen Ländern, weiss er. «Ich hätte auswandern können, doch mein Platz ist in Albanien», sagt er. Viele sehen es anders. «Ich kenne etliche, die sich mit der Arbeit in den Callcentern das Geld für das Medizinstudium oder die Ausbildung zur Krankenschwester verdienen und dann auswandern. Und von denjenigen, die dies schon getan haben, hat es niemand bereut.»
Ende 2019 schätzte das Statistikamt die Zahl der Einwohner Albaniens auf 2,86 Millionen – und die der im Ausland lebenden Albaner auf 1,64 Millionen. Als ein Textilunternehmer in der Stadt Shkodra am 31. März bei Rama den Mangel an Arbeitskräften beklagte, empfahl ihm der Ministerpräsident, Afghanen oder Menschen aus Bangladesh einzufliegen. Dass diese kein Albanisch sprächen, sei von Vorteil, sagte er: «Sobald sie Albanisch lernen, fangen sie an, sich zu verändern», sie würden sich dann für Politik und Demokratie interessieren, und er machte deutlich, dass er das eher für schädlich halte.
Das Ziegelsteinhaus der Muratis wurde beim Erdbeben stark beschädigt. Seither wohnen sie in einem Zelt im Garten.
Auch Tahir Murati hat mit seiner Frau Deshira und den drei Kindern versucht, Lac und Albanien zu verlassen, doch vergeblich. Ihre Heimat ist eine wirtschaftliche Krisenzone, wie viele Gegenden in Albanien. Seitdem 2000 das Metall- und Chemiekombinat schloss, in dem unter Diktator Enver Hoxha Tausende Menschen arbeiteten, hat sich der Ort nicht erholt.
Die Familie Murati überlebt mit einer staatlichen Beihilfe von rund 50 Franken monatlich, mit Gelegenheitsjobs und der Zucht von Obstbäumen, die sie in Töpfen im Garten heranziehen. Vier Jahre dauert es, bis so ein Bäumchen gross genug ist, höchstens 5 Franken bringt es ein. Und wie Tausende andere Albaner wären die Muratis schon froh, wenn sie wenigstens ein sicheres Dach über dem Kopf hätten. Ihr Ziegelsteinhaus wurde beim Erdbeben stark beschädigt, in allen Zimmern klaffen Löcher in der Decke. Staatliche Ingenieure erklärten das Haus für unbewohnbar. Sie wohnen seither in einem Zelt im Garten. Im Winter heizen sie es notdürftig mit zwei strombetriebenen Heizlüftern. Auf den versprochenen Wiederaufbau ihres Hauses warten die Tahiris bis heute.
EU lobt «Musterbeispiel für die Region»
Am Sonntag will das Ehepaar Murati nicht mehr Ramas nominell Sozialistische Partei wählen, sondern die oppositionelle, konservative Demokratische Partei. Auch die DP wird von einem Altbekannten geführt: Lulzim Basha. Wie andere führende Politiker war er schon in einen Skandal verwickelt, wegen mutmasslicher millionenschwerer Unregelmässigkeiten beim Autobahnbau. Folgen hatte dies für Basha keine.
Während EU-Vizepräsident Josep Borrell EU-Kandidat Albanien unter Ministerpräsident Rama zuletzt am 1. März als «Musterbeispiel für die Region» lobte, sehen unabhängige Beobachter das Land im Rückschritt und betrachten die offizielle Haltung der EU als «Hilfe für die Autokraten der Region», wie Gjergji Vurmo vom Institut für Demokratie und Vermittlung (IDM) in Tirana sagt. Ende März legten das IDM und die Antikorruptionsorganisation Transparency International einen Report über Albanien vor: Darin wird festgehalten, wie sich Politiker, Oligarchen und das organisierte Verbrechen durch manipulierte Ausschreibungen und andere Rechtsverstösse das Geld der Steuerzahler zuschieben, während eine korrupte Justiz schwere Skandale unbestraft lässt. Das Fazit: Unter dem autokratisch regierenden Rama hat «die Partnerschaft zwischen Politik, Geschäft und organisiertem Verbrechen ihren Höhepunkt erreicht».
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