Nachruf auf Ruth SchweikertSie schrieb ohne sentimentale Umwege
Die Schweizer Schriftstellerin ist 57-jährig gestorben. Ihre Bücher erzählen in gewaltiger Sprache von Alltäglichem. Und Schweikert war wegweisend für den schreibenden Nachwuchs des Landes.
In ihren Büchern steht immer etwas auf dem Spiel. Eine Ehe, eine Beziehung zur Mutter, ein Liebhaber oder ein Kind. Im Erzählband «Erdnüsse. Totschlagen» und in den drei Romanen «Augen zu», «Ohio» und «Wie wir älter werden» sind die Figuren vom Leben angeschlagen, suchen Halt in der Welt, aber Geborgenheit bleibt ihnen versagt. Im Zentrum stehen die Frauen, die Männer eher daneben, oder sie sind abwesend. Ruth Schweikerts Texte verhandeln immer das Alltägliche und erzählen von verhindertem Glück.
Sie debütierte 1994 als 29-Jährige mit sieben Erzählungen, die sich in «Erdnüsse. Totschlagen» versammeln. Jede einzelne ist so verstörend wie unerhört. Sie ging mit ihren heimatlosen Frauenfiguren auf direktem Weg an die Schmerzgrenze und nicht selten darüber hinaus. Für diese Zustände fand sie eine hellwache, lakonische und manchmal wunderbar respektlose Sprache. Die Autorin unternahm dabei keinen einzigen sentimentalen Umweg. Manchmal erzählte sie auf nur drei Seiten ein ganzes Leben.
Ihre Zähigkeit war ein Glück für die Literatur.
Schweikert wurde 1965 in Lörrach geboren und bekam mit 20 ihr erstes Kind. Mit 29, als ihr Debüt erschien, war sie bereits Mutter von zwei Söhnen. Sie musste sich die Zeit für die Kunst abringen. Während die Kinder gehütet wurden, arbeitete sie nachts oder an Wochenenden, wenn andere ihres Alters ausgingen. Ihre Zähigkeit war ein Glück für die Literatur.
Vielen war klar: Die Literatur braucht Ruth Schweikerts Stimme. Einige fanden sogar, sie sei eine neue Ingeborg Bachmann. Beim Wettlesen in Klagenfurt trat sie 1994 an und wurde mit dem Bertelsmann-Stipendium ausgezeichnet. Als 1998 ihr erster Roman «Augen zu» erschien, der geschickt komponiert war und einen wieder in den Strom von Schicksalen riss, befand die Kritik, der epische Atem dieser Autorin trage über die Form der Erzählung hinaus. Ihre Bücher erschienen erst im Zürcher Rotpunktverlag und im Zürcher Ammann-Verlag. Später im deutschen Fischer-Verlag, der alle vorherigen Bücher ins Taschenbuch nahm.
Ruth Schweikert war eine eindrückliche Erscheinung, beeindruckend in ihrer Präsenz, und gleichzeitig schien es, als sei sie auf dem Sprung. Es ging ihr um das Wesentliche: Was kann erzählt und welche Dinge müssen erfunden werden? Sie war immer in der Sprache – der gesprochenen, der im Entstehen begriffenen –, immer auf der Suche nach Klang.
Viele Projekte, gern auch gleichzeitig
Wenn sie vorlas, wirkte es so, als würde sie vor dem Publikum den eigenen Text mit kritischem Blick noch einmal neu lesen. Das war unprätentiös und ungewohnt im Literaturbetrieb. Peter Bichsel schrieb einmal, dass er die Autorin 1996 zu einer Veranstaltung einlud, bei der sie auf der Bühne den Laptop aufgeklappt, vorgelesen und plötzlich aufgehört habe mit dem Satz: «So weit, den Rest habe ich auf dem Computer verloren – für immer.»
Dieses Auf-dem-Sprung-Sein kam vielleicht daher, dass sie dafür bekannt war, viele Projekte zu haben, gern auch gleichzeitig: Theaterstücke, Beiträge für Zeitungen oder kurzfristige Aktionen.
Wichtig war ihre Arbeit als Mentorin, sei es mit Studierenden des Literaturinstituts in Biel oder beim Jungen Literaturlabor in Zürich. Sie begleitete viele heute erfolgreiche Stimmen auf ihrem Weg zur schreibenden Identität.
«Tage wie Hunde» ist ein autobiografisches Arrangement. Erstmals überhaupt schreibt Ruth Schweikert aus der Sicht einer Ich-Figur.
2019 erschien ihr letztes Buch «Tage wie Hunde». Sie musste es schreiben. In erster Linie für sich selbst – und gegen das Verschwinden. 2016 diagnostizierte man bei ihr eine äusserst aggressive Form von Brustkrebs. Den Tag dieser Zäsur nahm sie zum Ausgangspunkt für ihr Erzählen. Im gleichen Jahr erhielt die Autorin sowohl den Kunstpreis der Stadt Zürich wie auch den Solothurner Literaturpreis.
«Tage wie Hunde» ist ein autobiografisches Arrangement. Erstmals überhaupt schreibt Ruth Schweikert aus der Sicht einer Ich-Figur. Sie erzählt darin von Chemotherapie, der Bedeutung von Zeit vor dem Hintergrund der drohenden Endlichkeit. Besonders eindrücklich sind die SMS-Nachrichten, die von der Unbeholfenheit der Freunde und Bekannten zeugen. Die in ihrer Sprachlosigkeit zu Floskeln greifen. Die Autorin selbst rettete sich durch das Schreiben ihre literarische Identität ins Überleben.
Jede Erzählung ein Monolith aus Sprache
In «Tage wie Hunde» nannte sie das Sterben die «umgekehrte Geburt» und schrieb: «Wer oder was draussen in der Welt existierte, wird, wenn er sie es stirbt, verschwindet, zerstört oder unzugänglich ist, nach innen genommen, wird zu Erinnerung, zu Erzählung.»
Dass Gewissheiten zerfallen, wenn sich uns das Leben durch Variationen von Verlusten zumutet, überwältigend und kränkend, zieht sich auch durch die Lebensläufe von Schweikerts manchmal so sonderbaren wie anrührenden Figuren. «Erdnüsse. Totschlagen» und «Tage wie Hunde» sind Anfang und Ende ihres Schaffens.
Während andere Bücher aus den 90er-Jahren im Lauf der Zeit verblasst sind, weil sie über das Atmosphärische eines Moments und Milieus nicht hinausweisen, trifft dies nicht auf «Erdnüsse. Totschlagen» zu. Jede Erzählung ist heute noch ein Monolith aus Sprache. Und vielleicht zeigt dies ja, dass es für ihr Werk doch eine Gewissheit gibt: Die schmerzliche Intensität ihrer Sprache wird nicht verschwinden. Trotz allem oder allem zum Trotz.
Ruth Schweikert ist am Sonntag im Alter von 57 Jahren in Zürich gestorben. Sie hinterlässt ihren Mann und fünf Söhne.
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