Erste Auslandsreise seit Kriegsbeginn?Schweiz gewährt Selenski den Last-Minute-Joker
Der ukrainische Präsident kann bis kurz vor der Ukraine-Konferenz in Lugano entscheiden, ob er anreist. Der Bund hat sich historische Ziele gesetzt.
In zwei Wochen findet im Tessin eine Konferenz statt, in die nicht nur die Ukraine grosse Hoffnungen setzt. Sondern auch die Schweiz.
Bundespräsident Ignazio Cassis und der Tessiner Sicherheitsdirektor Norman Gobbi orientierten am Montag in Bellinzona die Medien über den Stand der Vorbereitungen für die Veranstaltung in Lugano. Auf ihrem Podium zog Simon Pidoux, der Schweizer Sonderbotschafter für die Ukraine-Wiederaufbau-Konferenz 2022, sogar einen Vergleich mit dem Marshallplan – jenem riesigen amerikanischen Hilfspaket, das Westeuropa nach dem Zweiten Weltkrieg Wohlstand und seine bislang längste Friedensperiode brachte.
Wegen des Krieges in der Ukraine ist zur Lugano-Konferenz vieles noch offen und – was das Sicherheitsdispositiv betrifft – geheim. Doch einzelne zentrale Fragen lassen sich nun beantworten.
Worum geht es genau?
Am 4. und 5. Juli kommen im Kongresszentrum von Lugano bis zu 1000 Personen aus Politik, Verwaltung, Nichtregierungsorganisationen und Wirtschaft zur Ukraine-Wiederaufbau-Konferenz 2022 zusammen. Eingeladen sind 40 Staaten und 20 internationale Organisationen.
«Der Weg zum Wiederaufbau führt über einen breit abgestützten politischen und diplomatischen Prozess», erklärte Cassis. «Diesen Prozess wollen die Schweiz und die Ukraine mit den internationalen Partnern in Lugano lancieren.» Am Schluss der Konferenz soll gemäss dem Bundespräsidenten eine «Erklärung von Lugano» oder «Lugano-Deklaration» stehen, eine Planskizze für den Wiederaufbau.
Wieso findet der Anlass in der Schweiz statt?
Der Anlass ist seit zwei Jahren geplant – als Reformkonferenz für die Ukraine. Durch den russischen Überfall wurde das Programm obsolet, aber Cassis und der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski entschieden, die Zusammenkunft trotzdem durchzuführen – zum Thema Wiederaufbau.
Ist es dafür nicht zu früh?
Gemäss der Schweizer Diplomatie ganz und gar nicht. Simon Pidoux, der Sonderbotschafter für die Konferenz, weist darauf hin, dass der Marshallplan auch bereits zwei Jahre vor Ende des Zweiten Weltkriegs aufgegleist wurde. Und die UNO-Gründung von 1945 bereits vier Jahre zuvor. «Wir hoffen alle», sagt Pidoux mit Blick auf die Ukraine, «dass der Krieg nicht mehr so lange dauert.»
Doch als ehemaliger Vizebotschafter der Schweiz in Kiew weiss Pidoux natürlich auch: In jenen Gebieten im Osten der Ukraine, in denen der Krieg am heftigsten tobt, ist an Wiederaufbau nicht zu denken. Andere Teile des Landes sind von russischen Angriffen weniger betroffen – oder sie wurden bereits wieder befreit. Dort lassen sich Schäden beheben.
Was wird an der Konferenz konkret gemacht?
Für die Ziele ist die Ukraine zuständig, die Schweiz stellt die Infrastruktur zu Verfügung – und hilft nach Kräften, damit die Ziele erreicht werden können. Präsident Selenski propagiert ein Modell mit Patenschaften: Einzelne Länder, Städte oder Unternehmen könnten Patenschaften übernehmen für einzelne Städte oder Branchen in der Ukraine.
Kommt Selenski?
«Die Teilnahme von Präsident Wolodimir Selenski und Premierminister Denis Schmihal ist bestätigt», heisst es nun von Schweizer Seite offiziell. Allerdings sei ungewiss, ob die beiden Staatsführer physisch oder virtuell im Tessin sein werden. Das Aussendepartement EDA rechnet im Moment eher mit Schmihal vor Ort. Allerdings hat Selenski gemäss verschiedenen Quellen von der Schweiz eine Art Last-Minute-Joker bekommen. Er kann bis kurz vor der Konferenz entscheiden, ob er kommt.
Wer kommt sicher?
Das EDA versucht, die Erwartungen zu dämpfen. Bislang sticht aber der Name Ursula von der Leyen, Präsidentin der EU-Kommission, heraus. Hohe Vertretungen schicken neben der Europäischen Union auch internationale Organisationen wie die OECD oder die Europäische Bank für Wiederaufbau und Entwicklung. Staats- oder Regierungschefs dürften in Lugano eine Handvoll zugegen sein – falls Selenski kommt, dürften es kurzfristig mehr sein. Sicher in Lugano anwesend sein werden zahlreiche Ministerinnen und Minister.
Wer kommt aus der Schweiz?
Neben der Ukraine stellt die Schweiz die grösste Delegation. Angekündigt ist – unter Vorbehalt eines Bundesratsentscheids – neben Cassis Infrastrukturministerin Simonetta Sommaruga.
Die Vertretung aus National- und Ständerat wird gross sein. So hat Nationalratspräsidentin Irène Kälin bundesintern die Absicht dabei zu sein kundgetan. Auch alle Präsidenten der bürgerlichen Bundesratsparteien haben sich angekündigt: Gerhard Pfister (Die Mitte), Thierry Burkart (FDP) und Marco Chiesa (SVP), der sich kürzlich noch kritisch über den Anlass äusserte.
Wer garantiert die Sicherheit?
Die Tessiner Kantonspolizei – mit Unterstützung aus anderen Kantonen, vom Bund und aus Italien. Die schweizerische und die italienische Luftwaffe schützen die Konferenz mit Kampfflugzeugen und Geschützen vom Boden. Der Bundesrat hat einen Einsatz von bis zu 1600 Armeeangehörigen erlaubt.
Sind das viele?
Beim WEF im Mai war der Einsatz von maximal 5000 Soldatinnen und Soldaten genehmigt. Der Tessiner Polizeikommandant Matteo Cocchi begründet das vergleichsweise kleine Aufgebot für Lugano mit der kürzeren Dauer: Die Ukraine-Konferenz findet an einem Montag und einem Dienstag statt, das Forum in Davos dauert normalerweise eine Arbeitswoche.
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