Analyse zu Crack in der SchweizSchauen wir weg, droht erneut eine Drogenhölle
In Zürich inhalieren immer mehr Leute Crack, Genf leidet gar an einer offenen, aggressiven Crackszene – diese Ausbreitung weckt schlimmste Erinnerungen.
Erschreckende Befunde aus Schweizer Städten. Chur kämpft mit einer offenen Heroinszene. In Genf hat sich die Zahl von Cracksüchtigen in einem Jahr verdoppelt, die Süchtigen liegen in den Hauseingängen, hängen in Läden herum, Dealer stehen bereit, viele Bewohnerinnen und Bewohner fühlen sich terrorisiert. Das Elend hat sich in den letzten beiden Jahren dermassen ausgeweitet, dass die Stadt ihren Konsumraum Quai 9 für Crackraucher schliessen musste.
Immer mehr Cracksüchtige werden auch in Zürich verzeichnet, wie einer Reportage dieser Redaktion zu entnehmen ist. Zwar wird die Substanz hier schon lange gedealt. In letzter Zeit nimmt der Konsum aber stark zu, unter anderem, weil die Dealer konsumfertige Cracksteine anbieten. Bereits gehen drei Viertel aller Konsumationen in Zürich auf Crack und das mit ihm verwandte Freebasing zurück. Noch funktionieren die Kontakt- und Anlaufstellen der Stadt beim Bahnhof Selnau, in Oerlikon und bei der Brunau. Aber man fragt sich, wie lange das System hält. Und was passiert, wenn es unter der Last der Süchtigen kollabiert.
Viele starben auf dem Gelände oder auf der Strasse.
Das Fatale an Crack, dieser gerauchten Verbindung von Kokain und Backpulver beziehungsweise Ammoniak, ist die sich verstärkende Kombination von Eigenschaften: Der Stoff ist günstig zu haben, leicht zu konsumieren und macht schnell high. Nur hält der Rausch bloss wenige Minuten an. Ausserdem macht die Substanz aggressiv und lässt den Süchtigen gesundheitlich verelenden.
Nun kann keine Stadt der Welt so gut nachvollziehen wie Zürich, welche Hölle eine offene Drogenszene den Abhängigen, Ärztinnen, Anwohnern und der Polizei bereiten kann. Denn Zürich hat diese Hölle durchlebt. Und das während sechs Jahren im Platzspitzpark hinter dem Hauptbahnhof. Und zwei weitere Jahre beim ehemaligen Bahnhof Letten. Erst 1995 wurde auch dieser Umschlagplatz aufgelöst.
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Zu Spitzenzeiten hatten bis zu 3000 Menschen auf dem Platzspitz täglich Heroin gespritzt. Bewaffnete Dealer suchten den Park auf, Zuhälter bedrängten die Frauen, die Männer dealten mit Drogen, um sich selber welche beschaffen zu können. Die Süchtigen litten an Entzugserscheinungen, Abszessen, Hepatitis, Mangelernährung, Depression, Kälte, Gewalt und Aids. Viele starben auf dem Gelände oder auf der Strasse. Andere drängten in die umliegenden Quartiere, bedrohten Passanten, verübten Raubüberfälle, brachen in Apotheken ein.
Nur wenn wir zu den Süchtigen so gut wie möglich schauen, können wir ihnen helfen.
Trotz diesen katastrophalen Zuständen mitten in Zürich, die der Stadt den weltweiten Ruf eines «Needle Park» einbrachten, setzten Politiker und die Polizei weiter auf eine repressive Drogenpolitik. Die Schweiz hatte sich vom US-Präsidenten Richard Nixon und seinem 1971 ausgerufenen «War on Drugs» infizieren lassen. Dieser Krieg hat den USA kaum etwas gebracht, sie aber bis heute eine Billion Dollar gekostet.
Die Schweiz brauchte über ein Jahrzehnt, bis sich Sozialdemokraten, Freisinnige und ein Teil der CVP zu einer «Koalition der Vernunft» zusammenfanden, wie sie sich damals nannte. Und den Bundesrat 1998 bei seinem Entscheid unterstützte, versuchsweise eine kontrollierte Heroinabgabe einzuführen und den Süchtigen saubere Spritzen abzugeben. Die Versuche konkretisierten sich in einer Praxis, die in mehreren Volksabstimmungen bestätigt wurde und bis heute gilt.
Und jetzt? Die drogenverseuchten Städte müssen alles unternehmen, um die erneute Ausbreitung einer offenen Drogenszene zu verhindern oder einzudämmen. Dass Repression allein nichts bringt, beweist das Drogenelend seit Jahrzehnten. Nur wenn wir zu den Süchtigen so gut wie möglich schauen, können wir ihnen helfen. Es braucht mehr Hilfe. Und das vor Ort.
Korrektur, 25. Juli, 20 Uhr: In einer früheren Version des Artikels hiess es fälschlicherweise, dass die USA in den vergangenen 50 Jahren eine Trillion Dollar für den «War on Drugs» ausgegeben hätten. Tatsächlich war es eine Billion.
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