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Buch zur Gesellschaft in der Krise
Remo Largo verarztet jetzt auch Städte

«Der Mensch ist nicht für ein Leben in der Massengesellschaft gemacht», schreibt Remo Largo.
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Es ist lange her, seit Remo Largo mit seinem Bestseller «Babyjahre» den Umgang mit Säuglingen nicht nur in der Schweiz verändert hat: Weg von einheitlichen Regeln, von starren Stillzeiten und rigiden Erwartungen an die Neugeborenen, hin zu einem individuellen Verständnis ihrer Bedürfnisse und Möglichkeiten.

Viele der Kleinen, deren Eltern das 1993 erstmals erschienene Buch gelesen haben, sind inzwischen längst erwachsen. Und Largo hat sie begleitet dabei, mit weiteren Publikationen, über «Kinderjahre» und «Jugendjahre» bis zu «Das passende Leben». Das neueste Buch heisst nun «Zusammen leben», es geht darin um die Gesellschaft als Ganzes – und immer noch darum, dass sich Individuen nicht in Raster pressen lassen.

Nicht alle brauchen gleich viel Schlaf, Geld, Zeit

Gewechselt hat im Laufe der Zeit allerdings das Genre. «Zusammen leben» ist keine Studie mehr, sondern eine Predigt, eine Warnung, eine Utopie. Zwar wird im ersten Teil noch einmal ausführlich jenes «Fit-Prinzip» erläutert, das Largo seit den 1990ern entwickelt hat und das darauf basiert, dass jeder Mensch unterschiedliche Grundbedürfnisse und Kompetenzen hat. Schlaf, Geld, Zeit: Nicht jede braucht gleich viel davon. Ein «richtiges» Leben gibt es deshalb nicht. Man kann nur das einem selbst Entsprechende suchen.

Jenseits aller Individualitäten gibt es jedoch Dinge, die niemandem guttun; davon ist Largo überzeugt. «Der Mensch ist aus evolutionärer Sicht für ein Leben in der Gemeinschaft und nicht in der Massengesellschaft geschaffen», schreibt er und macht dann die Feinde des Menschen aus: Anonymität, Heimatlosigkeit, fehlende Wertschätzung, Leistungsdruck, Fremdbestimmung, Abhängigkeit von der Wirtschaft, Plastikspielzeug, Tablets, Beton, Umweltverschmutzung, Lichtverschmutzung.

Es gibt kein «richtiges» Leben: Remo Largo hat schon immer dafür plädiert, sich nach den individuellen Bedürfnissen und Talenten zu richten.

Es ist ein trister Katalog, den Largo da zusammengestellt hat. Einer, der tatsächlich zentrale Probleme der Gegenwart auflistet. Aber dazu einen Pessimismus mitliefert, der einen dann doch immer wieder zum Widerspruch reizt. Denn auch mit Barbies sind kreative Spiele möglich. Es gibt sie, die Lehrerinnen und Lehrer, die ihre Schüler individuell wahrnehmen und fördern. Die Umweltprobleme sind zwar nicht gelöst, aber immerhin ein gutes Stück nach oben gerückt auf der politischen Agenda. Und formieren sich nicht gerade in der Massengesellschaft der Städte immer wieder Gemeinschaften, die sich gegen Missstände wehren?

Auch die städtebaulichen Projekte, die Largo mit utopischer Verve vorschlägt, wurden da und dort bereits realisiert: als Wohneinheiten, in denen verschiedene Generationen zusammenleben, Kinder sich austoben können und die Eltern sich gegenseitig unterstützen.

Spätestens wenn Largo die ideale Regierung entwirft, sehnt man sich nach den «Babyjahren» zurück.

Klar, es könnte und sollte mehr solcher Projekte geben. Und klar, noch immer werden an vielen Orten anonyme Siedlungen hochgezogen, Grossraumbüros eingerichtet, Freiräume verbaut. Auch wenn Largos Ideen nicht neu sind, sinnvoll sind sie immer noch.

Spätestens im letzten Teil des Buches, wenn er auch noch die ideale Regierung entwirft (und das Gesundheitsministerium mit einem Chefarzt oder Spitaldirektor besetzen will), sehnt man sich allerdings nach dem Largo der «Babyjahre» zurück. Nach einem Autor, der nicht über die Welt als solche schrieb, sondern über jenen Ausschnitt, den er à fond kannte. Der nicht Minister wurde, sondern Praktiker blieb. Und in seinen Untersuchungen von scheinbaren Details weit mehr Erhellendes, Überraschendes und das Zusammenleben Erleichterndes vermitteln konnte als nun mit grossen Worten.

Remo Largo: Zusammen leben – das Fit-Prinzip für Gemeinschaft, Gesellschaft und Natur. S. Fischer, Frankfurt am Main, 2020. 208 S., ca. 26 Fr.