Radstar Julian Alaphilippe im Interview«Ich habe ein grosses Loch in meiner Tasche, aber es ist meine Lieblingshose»
Mit 32 gibt der Weltmeister sein Debüt für das Schweizer Tudor-Team. Der Franzose spricht über seine Ambitionen, Luxus, Teamkollege Marc Hirschi und Gas schnüffelnde Konkurrenten.

Der Transfer bewegte die Welt des Radsports: Der zweifache Weltmeister Julian Alaphilippe verliess sein langjähriges Team Quick Step und schloss sich auf diese Saison hin dem Schweizer Team Tudor an, das in der zweithöchsten Kategorie unterwegs ist und keine Starts an der Tour de France oder am Giro garantiert. Im Gespräch zeigt sich der Franzose mit dem spektakulär-offensiven Fahrstil zum Saisonauftakt jedoch immer noch hungrig – und auch bei Themen wie technologischen Neuerungen oder dem Einsatz von Kohlenmonoxid angriffig.
Julian Alaphilippe, können wir das Interview auf Schweizerdeutsch führen?
Das wird schwer für mich. Mein Schweizerdeutsch ist im Moment noch sehr schlecht.
Ihre Unterschrift bei einer zweitklassigen Schweizer Equipe hat viele überrascht. Wie sind Ihre ersten Monate verlaufen?
Ich bin sehr, sehr, sehr glücklich mit meiner Entscheidung. Und ich denke, das beruht auf Gegenseitigkeit. Wir haben wirklich ein tolles Abenteuer vor uns. Ich habe mich schnell eingelebt und fühle mich sehr wohl im Team, das sehr professionell ist und auch eine familiäre Atmosphäre hat. Alles Dinge, die mir wichtig sind.
Sie haben Quick Step nach elf erfolgreichen Saisons verlassen. Das belgische Team kündigte den Abschied von einem «der letzten Romantiker des Radsports» an. Hat Sie das berührt?
Ja, aber ich rede nicht gerne über mich. Ich bin auf dem Rad einfach nur ich selbst. Ich bin jemand, der gerne alles gibt und viel aus dem Bauch heraus macht, mit dem Herzen und den Gefühlen. Doch im Radsport geht es immer mehr um Berechnung, um die Optimierung von so vielen Dingen.
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Der Radsport verliert für Sie seinen romantischen, abenteuerlichen Aspekt?
Watt-Zahlen waren schon immer da, zumindest seit Beginn meiner Karriere. Aber es wird von Jahr zu Jahr genauer. Ich wollte mich nie zu sehr einem maschinellen Ansatz beugen, aber auch ich musste mich weiterentwickeln und Fortschritte machen. Ich tue Dinge, die ich zu Beginn meiner Karriere nicht getan habe.
Der neuen Generation von Fahrern wurde die Technologie in die Wiege gelegt. Haben Sie versucht, ihnen Ihre Vision zu vermitteln?
Natürlich habe ich das. Aber ich bin kein Lifecoach oder Trainer. Ich bin nur ein Typ mit ein wenig Erfahrung. Wenn ich einen jungen Menschen sehe, der erfolgreich sein will, aber ein bisschen zu sehr auf Details fixiert ist, sodass er das Wichtigste vergisst, berührt mich das zwangsläufig. Und ich erinnere ihn gern daran, dass die Basis der Basis Spass und Arbeit sind. Und nicht all die Daten und Berechnungen. Wenn ich einem jungen Menschen mit Ratschlägen helfen kann, freue ich mich wirklich. Aber ich bin kein Lehrmeister.
Im Bestreben nach einem wieder weniger technologisch geprägten Radsport gibt es zum Beispiel die Debatte um die Abschaffung der Funkverbindung zwischen Fahrern und dem Team bei Rennen.
Ja, das wäre spektakulärer. Ohrstöpsel können supernützlich sein, um Gefahren und Probleme zu vermeiden. Aber alle Fahrer, zumindest fast alle, erhalten zur gleichen Zeit die gleichen Informationen. Das macht die Szenarien der Rennen ein bisschen weniger unvorhersehbar, das ist sicher.
In den letzten Jahren ergab sich bei der Tour de France, dem Giro d’Italia oder der Vuelta eine überwältigende Dominanz einiger Champions und ihrer Teams. Ist dieser Verlust an Spektakel für den Radsport gefährlich?
Gefährlich? Ich weiss nicht. Aber sie macht den Radsport durch den allgemeinen Mangel an Wettbewerb langweiliger. Wenn man die Gewinner der drei grossen Rundfahrten in den letzten Jahren nimmt, gibt es sie und den Rest der Radsport-Welt. Ich gehöre nicht zu ihrer Kategorie, also stört mich das nicht. Aber es ist nur so, dass, wenn ich mir einige Rennen im Fernsehen anschaue, es weniger lebendig geworden ist. Heldentaten wie Pogacar, der 120 Kilometer vor dem Ziel angreift, sind unglaublich. Aber im Fernsehen ist es scheisse!

Ist es das, was Sie mit 32 Jahren antreibt: dem Publikum einen Nervenkitzel bieten?
Genau das ist es. Vor allem, weil es meine Art ist, Spass zu haben und den Radsport zu lieben. Es ist nicht jedermanns Sache, Emotionen zu vermitteln – und es ist grossartig. Die Leute, die den Radsport verfolgen, sollen das sehen. Bis zum Ende, solange ich die körperlichen Möglichkeiten habe, werde ich das tun.
In Frankreich sind Sie zu einer populären Figur geworden. Seit 2022 sieht man am Strassenrand überall Schilder mit der Aufschrift «Allez Alain Philippe». Können Sie über Ihren Namensvetter noch lachen?
Ich bin ein dankbares Publikum. Ein Tag ohne Lachen ist ein verlorener Tag. Natürlich freue ich mich, wenn ich diese Schilder sehe. Die Leute haben Spass, kommen zu den Rennen und feuern uns an. Wenn es solche gibt, die Schilder machen wollen und eine gute Zeit haben, ist das toll.
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Diese Popularität kann sich auch auf ihr Privat- und Familienleben auswirken. Wie gehen Sie damit um?
Es fällt mir schwer, Nein zu sagen. Ausser wenn ich mit meinem Sohn zusammen bin und die Leute Videos machen. Dann ist es mir etwas unangenehm. Aber ich habe selten ein Foto abgelehnt, wenn man mich freundlich um eines gebeten hat. Ich bin zugänglich, ich bleibe jemand, der Rad fährt, jemand wie jeder andere.
Kann man das trotz des Erfolgs bleiben?
Es ist tief in mir verankert, aufgrund meiner Wurzeln und meiner Erziehung. Ich bin so, wie ich bin. Menschen, die sich ändern, waren das anfangs nicht wirklich. Davon bin ich überzeugt.
Dennoch haben Sie Verträge in siebenstelliger Höhe unterzeichnet. Sie treten in einem Milieu auf, das durch Luxus finanziert wird, mit Galas ...
(unterbricht) … ich bin selten auf einer Gala gewesen. Ich hole mir morgens mein Brot in der Bäckerei, obwohl ich einen guten Vertrag habe und in meiner Karriere viel Geld verdient habe. Ich habe ein grosses Loch in meiner Tasche (steht auf, um es zu zeigen). Mein Handy ist mir neulich auf den Schuh gefallen. Aber das ist meine Lieblingshose, und ich ziehe sie immer an. Wenn man mich zu einer Gala einladen würde, würde ich wahrscheinlich eine andere tragen, aber das würde nichts ändern.
Mit Tudor nahmen Sie letzte Woche an Paris–Nizza teil. Eine der grossen Herausforderungen der Saison für das Team sind aber die Einladungen zu den grossen Rundfahrten, die erst spät eintreffen – wenn überhaupt. Macht Ihnen das Sorgen?
Nein, ich konzentriere mich ganz auf die bevorstehenden Rennen. Natürlich ist die Tour de France in einer Ecke meines Kopfs. Ich wäre superglücklich, dort zu fahren, wie das ganze Team, aber solange wir keine Bestätigung haben, denke ich nicht daran.
Sie sind im selben Team wie der Schweizer Radstar Marc Hirschi. Wie läuft die Zusammenarbeit?
Sehr gut. Wir haben nicht wirklich das gleiche Saisonprogramm und werden uns nur bei den Ardennenklassikern sehen. Aber ich denke, wir werden uns gegenseitig hochziehen. Mit 26 Jahren befindet sich Marc in einer anderen Phase seiner Karriere. Ich würde mich also super für ihn freuen, wenn er es schafft, seine Ziele zu erreichen. Und wenn ich ihm dabei helfen kann, ist das umso besser.

Besteht nicht auch die Gefahr einer Rivalität? Wenn Sie beim selben Klassiker an den Start gehen, werden beide gewinnen wollen.
Die Beine werden entscheiden. Es gibt keine Rivalität, weil wir beide wissen, dass wir füreinander wichtig sind und dass das oberste Ziel ist, das Team glänzen zu lassen. Wir werden uns nicht gegenseitig den Rang ablaufen. Ich habe mich auch bei Quick Step mit den vielen Fahrern, die in der Lage waren, zu gewinnen, weiterentwickelt. Es gab nie ein Problem. Ich persönlich werde mich nie gegen den Erfolg des Teams stellen.
Eines der grossen Themen zu Saisonbeginn ist die Zuführung von Kohlenmonoxid, was nun von der UCI verboten wurde, aber nur schwer nachweisbar ist.
Ich frage mich, ob diejenigen, die es missbraucht haben, dies auch weiterhin tun werden. Wie wird die UCI sie kontrollieren können? Ich persönlich kenne mich damit überhaupt nicht aus. Ich habe es noch nie benutzt. Ich hoffe, dass wir nie wieder davon hören.
Es ist doch verrückt, dass jemand Gas schnüffelt, um ein Fahrradrennen zu gewinnen.
Wenn ich an Kohlenmonoxid denke, denke ich an einen Kühlschrank oder eine Heizung, die ein technisches Problem hat und dich über Nacht umbringen kann. Nicht an die Leistung. Das geht mir ein bisschen zu weit. Ich kann mich nicht gross darüber auslassen, weil ich in dieser Hinsicht keine wissenschaftlichen Kenntnisse habe.
Um mit einer fröhlicheren Note zu enden: Gibt es ein Rennen, das Sie am liebsten gewinnen würden? Lüttich–Bastogne–Lüttich?
Ja, ich bin schon ein paarmal ganz nah dran gewesen. Es ist noch schwieriger, ein Monument zu gewinnen. Aber wenn wir uns mit Marc im Finale von Lüttich wiederfinden und dort eine wichtige Rolle spielen können, wäre ich sehr zufrieden. Da wäre ein Sieg der Gral.
Haben Sie noch die Beine, um diese Konkurrenz zu schlagen?
Immer weniger und weniger. Aber ich gebe die Hoffnung nicht auf und arbeite hart.
Ist es nicht schwierig, wenn man fast alles gewonnen hat, sich vorzustellen, dass man immer weniger Chancen auf den Sieg hat?
Meine Moral, meine Motivation und meine körperliche Verfassung sind nicht schlechter als zuvor. Wenn ich das Training oder auch die Rennen zu Jahresbeginn analysiere, fühle ich mich sehr gut. Das zeigen auch die Daten. Es ist einfach so, dass die anderen Fahrer immer stärker werden. Ganz einfach. Man darf sich keine Ausreden einfallen lassen. Ich werde bis zu meinem letzten Rennen weiterhin mein Bestes geben und hoffe, dass es noch einige schöne Dinge zu tun gibt.
Aus dem Französischen von Reto Meisser.
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