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Neuer Roman von Daniel Kehlmann
Ein Künstler im Reich der Lüge

*** SPECIAL FEE *** Daniel Kehlmann, Berlin, Schriftsteller



 Engl: Daniel Kehlmann, Author, in Berlin, Germany.

Mit dem so ungeheuer trendenden Genre der Autofiktion hat Daniel Kehlmann nichts am Hut. Sein erfolgreichster Roman drehte sich um zwei Gelehrte des 19. Jahrhunderts, sein bisher letzter spielte im Dreissigjährigen Krieg. Der neue, am 10. Oktober erscheinende kreist um den Filmregisseur Georg Wilhelm Pabst (1885–1967).

Der ist Cineasten durchaus noch ein Begriff: G. W. Pabst gehörte neben F. W. Murnau und Fritz Lang zu dem grossen Dreigestirn des deutschen Stummfilms, Streifen wie «Die freudlose Gasse» mit Greta Garbo und Asta Nielsen, «Die Büchse der Pandora» mit Louise Brooks oder «Die weisse Hölle vom Piz Palü» mit Leni Riefenstahl gehören zu den unvergänglichen Höhepunkten der jungen Filmkunst.

Früh kam Pabst auch nach Hollywood, reüssierte dort aber nicht und kehrte ins heimische Österreich zurück, das inzwischen als «Ostmark» Teil des «Dritten Reiches» geworden war. Dass er im gleichgeschalteten Nazi-Reich erneut Filme drehte – «Komödianten», «Paracelsus» –, liegt wie ein Schatten auf seinem Ruhm, mehr noch sein Abstieg in die Niederungen der Nachkriegs-Unterhaltung («Rosen für Bettina», «Durch die Wälder, durch die Auen»).

(Eingeschränkte Rechte für bestimmte redaktionelle Kunden in Deutschland. Limited rights for specific editorial clients in Germany.) Pabst, Georg Wilhelm   (*25.08.1885-29.05.1967+)  , Regisseur, Oesterreich, - mit der Schauspielerin Brigitte Helm , - 1932  (Photo by ullstein bild via Getty Images)

Was hat wohl Daniel Kehlmann an diesem Stoff, an dieser Figur gereizt? Eine erzählte Biografie ist sein Roman «Lichtspiel» jedenfalls nicht. Kehlmann wählt aus und konzentriert, streift die Kindheit und Jugend, sogar die grossen Stummfilmerfolge lediglich oder verweist sie in Rückblickspassagen.

Im Zentrum des Romans stehen die Jahre, in denen Pabst unter der Fuchtel des Reichspropaganda­ministeriums steht. Und im Dilemma, sich als Künstler unterwerfen und anpassen zu müssen, um Künstler bleiben zu können. Ein Dichter kann für die Schublade, notfalls sogar auch nur im Kopf dichten; Filmarbeit ist öffentlich, abhängig von vielen Zuarbeitern, von Geld und Genehmigung.

«Wichtig ist, Kunst zu machen»

Kehlmann zeichnet nun subtil nach, wie der Mann, der eben noch, in den USA, sagte, «mein Vaterland ist verschwunden», der in Berlin in einer Menge den Hitlergruss mitmacht, um nicht aufzufallen, und sich dabei «beschmutzt bis ins Innerste», bei Goebbels zu Kreuze kriecht.

Die Szene mit dem Propagandaminister, der verlogene Werbung mit brutaler Erpressung mischt, ist erschreckend grossartig. Der ehemals «rote Pabst» dreht fortan für die UFA – keine Propaganda, aber natürlich dem Regime nützliche Produkte – und findet zunehmend Gefallen und Erfüllung an der Arbeit. Die Rechtfertigung kommt dazu: «Wichtig ist, Kunst zu machen, unter den Umständen, die man vorfindet», und rechtfertigt sich, wie einst Orson Welles in «Der dritte Mann», auf die blutige, aber an Kunst so überreiche italienische Renaissance.

Die Repression zeugt alternative Fakten

Gespenster, Spuk, alles Unheimliche: Das hat Daniel Kehlmann schon immer angezogen. Gespenstisch ist hier indes die Realität der Diktatur. Sie überfällt Pabst in jenem baufälligen Schloss in Österreich, das er einst günstig gekauft hat und in dem er jetzt gefangen ist, drangsaliert vom Hausmeister, inzwischen NS-Ortsgruppenleiter. Auch diese eine Mischung aus vorgetäuschter Servilität und offener Brutalität. Er stösst Pabst von einer Leiter – und Pabsts Frau Trude überzeugt ihn, dass der Angriff ein Unfall gewesen sein muss: «Die Polizei gibt es nicht mehr.» So zeugt die Repression alternative Fakten.

Bildnummer: 54345252  Datum: 12.04.1929  Copyright: imago/United Archives
KPA61530.jpg DIE WEISSE HÖLLE VOM PIZ PALÜ / D 1929 / Arnold Fanck/Georg Wilhelm Pabst LENI RIEFENSTAHL als Maria Majoni und GUSTAV DIESSL als Dr. Johannes Krafft B6537 People Entertainment 1929 quer Film Fernsehen 20er Drama Abenteuerfilm Stummfilm  o0 sw

Bildnummer 54345252 Date 12 04 1929 Copyright Imago United Archives KPA61530 JPG the White Hell of Piz Palü D 1929 Arnold  Georg Wilhelm Pabst Leni Riefenstahl as Mary  and Gustav  as Dr John Krafft B6537 Celebrities Entertainment 1929 horizontal Film Television 20 Drama Adventure film Silent film o0 black and white

Aus dem Reich des kleinen Diktators hilft nur der grössere hinaus und zwingt Pabst in den Dienst des «Reiches der Lüge». Gelogen wird überall, selbst im Lesekränzchen, in das Trude genötigt wird und in dem die Machwerke eines Autors namens Arthur Karrasch in höchsten Tönen gelobt werden (müssen). Pabst selbst muss der herzlich unbegabten, aber herrischen Leni Riefenstahl bei ihrem Opernfilm «Tiefland» assistieren, sich benutzen und demütigen lassen.

Die Realität entzieht sich, wenn von den Machthabern bestimmt wird, was real ist. Sie deformiert auch Pabsts Familie: Seine Frau zieht sich in Zynismus und Depression zurück, Sohn Jakob wächst nicht ungern in die neuen Verhältnisse hinein.

Erinnerung an Kehlmanns ermordete Familienmitglieder

Daniel Kehlmann, Jahrgang 1975, hat nicht im «Dritten Reich» gelebt (ebenso wenig wie im Dreissigjährigen Krieg). Aber er ist jüdischer Abstammung, die Erinnerung an die ermordeten Familienmitglieder Teil seiner Kindheit. Seine Grosseltern überlebten die NS-Zeit dank gefälschter Dokumente, sein Vater kam mit 17 in ein Nebenlager von Mauthausen und durch Zufall nach wenigen Monaten frei. Diesem Zufall verdankt Daniel Kehlmann seine Existenz.

Lange hat er sich nicht reif genug gefühlt, diese Zeit literarisch zu gestalten. Jetzt hat er es getan, und es ist ihm glänzend – und das heisst hier: bedrückend, kehleeinschnürend – gelungen.

Kehlmann transportiert die Diktatur in Bilder von Beengtheit.

Wie der expressionistische Film – von dem Pabst ja herkommt – die Raumerfahrung durch schräge Wände etc. deformiert, so transponiert Kehlmann die Diktatur in Bilder von Beengtheit: Das Schloss wird zum Spukschloss, immer wieder geht es in Keller und Höhlen; umgekehrt dehnt sich die Imponier­architektur der Nazis ins Unendliche.

Zu den räumlichen kommen Zeit-Effekte, surrealistische Elemente: Der Auftritt Goebbels’ läuft zweimal ab, desgleichen eine Szene in Pabsts Herzensprojekt, «Der Fall Molander», als Häftlinge aus einem KZ als Statisten auftreten müssen.

«Der Fall Molander» beruht ausgerechnet auf einem Roman des NS-Schmierers Karrasch über eine gefälschte Stradivari-Geige. Pabst will das Machwerk zu grosser Kunst transzendieren, aus Dreck Gold machen. Er hält den Film für sein bestes Werk. Eine Illusion? Wir werden es nie wissen. In den Wirren des Kriegsendes gehen die Filmrollen verloren. (Laut Wikipedia liegen sie im Prager Filmarchiv.)

Wir begegnen der göttlichen Garbo und Heinz Rühmann

Der Schweizer Autor Charles Lewinsky hat 2011 einen Roman über den jüdischen Schauspieler Kurt Gerron vorgelegt, der im KZ Theresienstadt einen NS-Propagandafilm drehen musste. Ein ähnlicher Stoff also. Lewinsky hatte den Künstlerkonflikt ganz ins Innere seines Helden verlegt. Kehlmanns Roman ist eher ein Puzzle. Er spricht mit vielen Stimmen und schaut mit vielen Augen auf die Welt. Wir sehen sie mit Pabsts Sohn Jakob, der ins Verhängnis hineinwächst. Mit einem Handlanger der NS-Filmindustrie.

Wir begegnen der göttlichen Garbo und Louise Brooks, von der einzigen Liebesnacht mit ihr träumt Pabst noch nach Jahrzehnten. Wir begegnen Fred Zinnemann, Carl Zuckmayer, Leni Riefenstahl und Heinz Rühmann, ja sogar der von Kehlmann innigst gehasste Peter Alexander taucht in einer Nebenbemerkung auf, als «ein junger Hauptdarsteller von aberwitzig öliger Professionalität».

Eingerahmt wird das Panoptikum von Franz Wilzek, der Regieassistent bei Pabst war und im Alter aus dem Heim und vor eine TV-Kamera gezerrt wird. Diesen Wilzek hat Kehlmann erfunden und grossartig gestaltet mit Gedanken, die unkoordiniert durch ein dementes Hirn laufen und davonrinnen. Man ist in diesem Hirn gefangen wie zuvor im Spukschloss oder im verengten Horizont einer verführten Jugend. Und hier wie zuvor folgen Erschrecken und helles Auflachen und Erschrecken über dieses Auflachen aufeinander.

Viele Szenen sind, mitten im Horror, nicht ohne slapstickhafte Momente.

Überhaupt, die Komik! Viele Szenen sind, mitten im Horror, nicht ohne slapstickhafte Momente. Selbst der Goebbels-Auftritt, bei dem er voller Wut ein Telefon zerschmettert und dann mit der Stoppuhr misst, wie schnell seine Adlaten ein neues installieren. An eben diesem Telefon hat er zuvor etwas gehört, was wohl eine Folterung gewesen sein muss. Komik entsteht immer wieder aus unangemessenem Verhalten; aus dem Nichtverstehen; aus automatenhafter Mechanik; aus Täuschung und Enttäuschung.

Letztlich liegt über dem bewegten Leben dieses Künstlers eine grosse Vergeblichkeit, die in den Augen des Betrachters mal ins Tragische, mal ins Melancholisch-Komische kippt. Auf den schmalen Grat dazwischen balanciert Kehlmann, und er tut es mit Sicherheit nicht ohne Blick auf das eigene Künstlertum.

Wie abhängig ist ein Künstler von seiner Umgebung – dass Pabst nicht in Hollywood reüssierte und im lustigen Verdrängungskino der 1950er nicht mehr an alte Form anknüpfen konnte, liegt ja nicht nur an ihm. Was bleibt von ihm – jenseits der Cinematheken und gelegentlicher Jahrestage? Was bleibt von einem Buch? Nun – dieses ist erst einmal da. Ein Meisterwerk.

Daniel Kehlmann: Lichtspiel. Rowohlt, Hamburg 2023. 490 S., ca. 35 Fr.