Analyse zum AboschwundNetflix bricht sein heiliges Versprechen
Der Streamingdienst verliert Nutzer und will deshalb Werbespots schalten. Oje.
200’000 Abonnenten und Abonnentinnen weniger – ist das schlimm? Für den erfolgsverwöhnten Streamingdienst schon. Prognostiziert hatte Netflix von Anfang Jahr bis Ende März 2 Millionen mehr Nutzerinnen und Nutzer auf der Welt, am Ende sank die Zahl um 200’000. Für das zweite Quartal rechnet der Dienst mit einem Rückgang von 2 Millionen. Global hat der Dienst über 220 Millionen Nutzer.
Der sonst ruhige Netflix-Chef Reed Hastings versprach den Investoren, er werde nun alles tun, um ihre Gunst zurückzugewinnen. Übersetzt heisst das: Feueralarm.
Erste Gegenmassnahmen: Netflix will es bestehenden Abonnenten erschweren, ihr Passwort weiterzugeben. Der Dienst wird weniger als geplant für neue Serien und Filme ausgeben (es werden immer noch mehrere Milliarden Dollar pro Jahr sein). Auch wird er wohl das Angebot an Games ausbauen.
Werbung ist «aufregend»
In nächster Zeit prüft Netflix zudem die Einführung eines Abos mit Werbeunterbrechungen – obwohl der Dienst stets beteuerte, er werde das nie tun. Das neue Angebot wäre billiger als das Basisabo, das in der Schweiz 11.90 Franken kostet. Werbung stelle für Netflix eine «aufregende Gelegenheit» dar, sagte ein Manager laut «Hollywood Reporter» in der Konferenz mit Investoren.
Das Angebot wird sich an Leute richten, die weniger zahlen wollen und nichts dagegen haben, wenn eine Serie durch Spots unterbrochen wird. Anbieter in den USA, zum Beispiel Hulu, tun das schon jetzt. Dort kostet ein Abo mit Werbung 6.99 Dollar monatlich.
So werden wir wieder die Glotzer von damals.
Dass Netflix Abos verliert, hat verschiedene Gründe: das Ende der Corona-Massnahmen in vielen Ländern, die Konkurrenz durch Disney und Apple, die allgemeine Streamingerschöpfung. Netflix setzt weiterhin auf Nutzerwachstum und muss deshalb neue Kunden ansprechen.
Werbung auf Netflix klingt trotzdem wie eine schlechte Pointe. Streaming war immer auch ein Versprechen: kein Glotzen und Zappen, keine nervtötenden Werbeblöcke. Stattdessen ein bisschen Distinktionsgewinn, indem man seine Lieblingsserie findet oder ignoriert, was andere gut finden. Wer Fernsehen schaut, weiss oft nicht im Voraus, was er gucken wird. Wer streamt, weiss es genau.
Jedenfalls in der Theorie. Natürlich kann man auch auf Netflix eine Ewigkeit lang durch Menüreihen scrollen. In Zukunft aber wird es so sein, dass wir irgendeine Serie starten und eine Weile dabeibleiben, bis der erste Werbeblock kommt.
So werden wir wieder die Glotzer von damals. Wir sind zwar immer noch unabhängig von fixen Sendeterminen. Aber das Feeling vor dem Fernseher wird das alte sein.
Auch werden Serien anders gedreht, wenn sie von Werbung unterbrochen werden – das Publikum soll ja dranbleiben. Netflix pochte stets auf die künstlerische Freiheit, so konnten Episoden von Serien etwa unterschiedlich lang sein. Mit dem neuen Angebot ist das wohl vorbei – mit Auswirkungen auf die werbefreien Abos. Auch dort sind Standardisierung und Normalisierung zu erwarten. Um nicht zu sagen: Entzauberung.
Fehler gefunden?Jetzt melden.