Instagram im Nahostkonflikt Wie ich mich derzeit in sozialen Medien zurechtfinde
Unsere Autorin versucht, mit Fake News, Bilderflut und Überforderung umzugehen. Sie fragt bei einem Friedensaktivisten und einem Medienpsychologen um Rat.
Ich sehe die Bilder in Storys von Freundinnen aus Israel, in Posts von Bekannten aus dem Westjordanland, in Social-Media-Beiträgen internationaler Medien und in Berichten von Journalisten vor Ort, die ihren Alltag dokumentieren, beispielsweise Plestia Alaqad in Gaza oder Thore Schröder vom deutschen Nachrichtenmagazin «Spiegel« in Israel.
Eltern, die ihre toten Kinder in den Armen halten. Ein Liebespaar, das auseinandergerissen und entführt wird. Ärzte, die über den Verlust ihrer Verwandten in Tränen ausbrechen. Junge Menschen, die ihre Geschwister vermissen. Journalistinnen, die mit gebrochener Stimme in ihre Handykameras sprechen. Ganze Stadtteile, die in Schutt und Asche liegen, dazwischen leblose Körper in weissen Säcken.
Das sind die Bilder, die ich sehe, wenn ich meine Instagram-App öffne. Ich sehe sie, weil ich informiert sein will. Weil ich möglichst breit informiert sein will.
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Ich will diese Bilder nicht einfach wegdrücken und verdrängen. Doch so langsam merke ich, dass sie mir zu schaffen machen. Dass mich diese Bildflut überfordert. Dass mich ihre Grausamkeit vor dem Einschlafen einholt – und gleich darauf das schlechte Gewissen, weil ich genau weiss, dass ich an einem sicheren Ort bin, dass ich die Bilder einfach wegklicken kann im Gegensatz zu den Menschen vor Ort.
Ich merke, dass ich in dieser Flut von Informationen und Emotionen die Übersicht verliere. Dass ich mir nicht mehr sicher bin, wo die Wahrheit liegt und welchen Posts ich trauen kann.
So mag es nicht nur mir gehen, sondern vielen Menschen, die momentan versuchen, sich in den sozialen Medien zu informieren, sich zurechtzufinden.
«Auch mir geht es so», sagt Gregor Waller. «Ich halte es zum Teil nicht mehr aus auf X.» Waller leitet die Fachgruppe Medienpsychologie an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften. Seine Taktik: Er schränkt seinen Social-Media-Konsum ein, zum Beispiel auf 15 Minuten nach dem Mittagessen. «Sonst löst das bei mir etwas aus.»
«In der Schweiz leben viele Geflüchtete aus Kriegsgebieten, die retraumatisiert werden können.»
Denn auch wenn wir diese Bilder – wie ich – an einem sicheren Ort anschauen, sind sie für unsere Psyche belastend. «Man kann durch mediale Bilder durchaus traumatisiert werden», sagt Waller. Nach 9/11 habe es Forschung dazu gegeben, die das belege.
Besonders gefährdet sind Menschen, die solche Bilder bereits als Erinnerungen mit sich herumtragen. «In der Schweiz leben viele Geflüchtete aus Kriegsgebieten, die retraumatisiert werden können», sagt Waller.
Was können wir dagegen tun?
Gregor Waller gibt vier Tipps:
Den Konsum sozialer Medien einschränken, zum Beispiel auf wenige Minuten täglich. Dabei können auch Funktionen der einzelnen Apps helfen, die die Gebrauchszeit beschränken.
Den Feed einschränken. Auf gewissen Plattformen ist es möglich, nur Beiträge von Profilen zu sehen, denen man folgt. Bei Instagram zum Beispiel, wenn man nur den Home-Feed anschaut, bei X, wenn man auf den Feed «Folge ich» umschaltet.
Eher Plattformen des Konzerns Meta verwenden. Sie seien tendenziell stärker moderiert und gefiltert als beispielsweise X oder Tiktok.
Auf schriftlich verfasste Nachrichten umsteigen, beispielsweise auf Onlineportale von etablierten Zeitungen. Denn traditionelle Medien hätten eine Gatekeeper-Funktion, sagt Waller. «Ich verlasse mich darauf, dass ich dort keine traumatisierenden Bilder zu sehen bekomme.»
Gleichzeitig sagt Waller: «Die Bilder ganz weglassen ist auch schwierig, denn sie zeigen nun mal die Realität.» Jede Person müsse abwägen, wie viel Bildmaterial sie brauche, um informiert zu bleiben. Und man müsse sich bewusst sein, dass es verschiedene Motive gebe, wieso man sich die Bilder ansehe. Ist es wirklich, weil man informiert sein will, oder spielt zum Teil auch eine gewisse Angstlust eine Rolle, wie es auch bei Gaffern bei Unfällen der Fall ist?
Fest steht für ihn, dass man sich schützen muss.
Und was ist mit den Schuldgefühlen beim Wegklicken?, frage ich den Medienpsychologen.
«Selbstfürsorge ist nicht egoistisch», sagt Waller. Wir müssen mental gesund bleiben, um positiv auf die Umwelt einwirken zu können. Gegen Schuldgefühle helfen Gespräche mit andern, sich auszutauschen und vor allem: aktiv werden, sich engagieren.
Was können wir tun?
Sich engagieren, das klingt gut. Doch was können wir hier in der Schweiz konkret tun?
Ich frage bei Alon-Lee Green nach. Er ist jüdischer Israeli, lebt in Tel Aviv und ist Co-Direktor der Organisation Standing Together, in der sich Juden und Araber seit 2015 gemeinsam für eine friedliche Lösung des Konflikts einsetzen.
«Das Spiel, das derzeit in Europa gespielt wird – auf welcher Seite stehst du? –, geht völlig an der Situation vorbei.»
Seine Message ist klar: «Verbreitet die Nachricht, dass es in diesem Land Jüdinnen und Araber gibt, die gemeinsam versuchen, eine bessere Realität zu schaffen und diese Gewaltspirale zu beenden.» Das sei eine Nachricht, die es viel zu selten durch die vielen schrecklichen News schaffe, obwohl sie extrem wichtig sei. «Das Spiel, das derzeit in Europa gespielt wird – auf welcher Seite stehst du? –, geht völlig an der Situation vorbei», sagt Green.
Green ist selbst aktiv in den sozialen Medien, seit dem 7. Oktober postet er oft mehrmals täglich. Und auch ihm machen die Bilder zu schaffen. «Ich schliesse meine Augen, sobald ich ein schreckliches Bild oder Video sehe», sagt er. «Wir müssen unsere Seele schützen.» Auch deshalb blockiere er täglich ungefähr 500 Benutzer, die ihm Beleidigungen und Morddrohungen schickten.
Doch auch für Green sind die sozialen Medien wichtig, damit er sich umfassend informieren kann. Er rät dazu, vielen unterschiedlichen Menschen zu folgen, keinen Extremistinnen, aber auch Leuten, deren Meinung man nicht teile. Das helfe, Sichtweisen zu verstehen, die nicht die eigenen seien.
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Ein weiterer Tipp von Green: «Folgt arabischen Israelis, also Menschen, die zwar in Israel leben, aber Verwandte in Gaza und der Westbank haben. Denn ihre Realität ist momentan die komplexeste.» Auf der einen Seite seien sie Israelis, «sie lesen unsere Nachrichten und teilen unseren Schmerz». Auf der anderen Seite würden sie durch ihre Familien auch die Perspektive der Palästinenser kennen. Das ermögliche ihnen eine weitere Perspektive als den meisten Menschen, nicht zuletzt, weil sie Hebräisch und Arabisch sprächen. Als Beispiel nennt Green zwei «grossartige Stimmen» aus seiner Organisation: Sally Abed und Rula Daood.
Greens Ansatz leuchtet mir ein. Denn gerade jetzt meine ich in meinem Umfeld zu beobachten, wie sehr sich die Accounts, denen wir in den sozialen Medien folgen, auf unsere Perspektiven auf den Konflikt auswirken. Ich meine zu beobachten, dass wir uns online mehr denn je in unseren eigenen Bubbles bewegen.
Ist das wirklich so?
Anne Schulz, Kommunikationswissenschaftlerin der Universität Zürich, hält dagegen. «Die Forschung findet keine Belege für Filterblasen in den sozialen Medien», sagt sie. Im Gegenteil: «Die Algorithmen konfrontieren uns oft auch mit Inhalten, die wir uns selbst so nicht ausgesucht hätten.» Das sei auch so, weil die Algorithmen so programmiert seien, dass sie für uns spannend blieben. Schulz’ Vorhersage: Wenn man vielen Profilen mit Informationen zum Nahostkonflikt folgt, werden einem zwar mehr politische Infos auf dem Feed angezeigt, wahrscheinlich aber nicht nur aus einem politischen Lager.
«Im Krieg ist die Wahrheit das Erste, was verloren geht.»
Die Forschungsergebnisse, von denen Schulz berichtet, gehen zurück auf die Corona-Pandemie und den Ukraine-Krieg. Zur aktuellen Konfliktsituation gibt es noch keine Daten. Und Schulz hält fest: Natürlich könnten sich die Algorithmen jederzeit ändern.
Bleibt eine letzte Frage: Wie gehe ich mit den vielen Falschinformationen um, die sich derzeit in den sozialen Medien verbreiten?
«Im Krieg ist die Wahrheit das Erste, was verloren geht», sagt Medienpsychologe Gregor Waller. Das müsse einem bewusst sein. Und das gelte sowohl für die sozialen Medien als auch für die traditionellen. Deshalb führe kein Weg daran vorbei, sich über verschiedene Medien breit zu informieren.
Waller rät, verschiedene etablierte Onlineportale zu lesen, auch über den Röstigraben hinaus und auch internationale Presse. Auch Kommunikationswissenschaftlerin Anne Schulz sieht die traditionellen Medien als wichtigen «Debunk» bei Falschinformationen im Netz, obwohl auch sie nicht vor Fehlern gefeit seien.
Zudem rät Waller, den Wahrheitsgehalt von Informationen im Internet in Gesprächen mit dem Umfeld zu diskutieren. Ganz wichtig sei auch, Inhalte, bei denen man nicht sicher sei, ob sie wahr seien, nicht zu teilen. Auch nicht, um bei seinen Followerinnen zu prüfen, was sie dazu denken. Denn damit trage man selbst zur Verbreitung von falschen Informationen bei.
Ein Gürteltier, das Laub sammelt. Die Ankündigung einer Buchpremiere. Und ein illustriertes Pferd. Das sind die Bilder, die ich jetzt sehe, wenn ich meine Instagram-App öffne.
Ich habe einige Tipps von Gregor Waller befolgt. Zusätzlich habe ich die Accounts, die explizite Bilder aus Gaza und Israel teilen, stumm geschaltet. Entfolgen will ich ihnen nicht. Denn ich will breit informiert bleiben. Doch so kann ich selbst entscheiden, wann ich die Bilder sehe, werde nicht mehr mit ihnen konfrontiert, sobald ich Instagram öffne.
Das schlechte Gewissen bleibt – und trotz allen Tipps auch die Schwierigkeit, unter all diesen Informationen die Wahrheit zu finden.
Am Ende bleibt die ernüchternde Erkenntnis, dass ich nicht so weit entfernt bin von diesem Krieg, wie ich dachte. Als Informationskrieg findet er auch auf meinem Handy statt. Ob ich die ganze Wahrheit sehe, kann ich bei allen Bemühungen nie wissen. Doch ich kann mich bemühen, so viele Perspektiven wie möglich zu sehen – auch die, die Hoffnung machen.
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